María Gainza
Lidschlag
"Ich musste daran denken, dass sich in dem Abstand zwischen dem, was man schön findet, und dem, was einen vollkommen in seinen Bann schlägt, die ganze Kunst abspielt und dass diese unterschiedliche Wahrnehmung oft von den scheinbar unbedeutendsten Winzigkeiten abhängt."
Vom Bild zur Erinnerung
Die Kunsthistorikerin María erzählt von einer elektrisierenden Begegnung im Museo Nacional de Arte Decorativo in Buenos Aires, mit einem Hirsch, gemalt von Alfred de Dreux, der vor seinem frühen Tod mit fünfzig Jahren als einer der besten Pferdemaler Frankreichs galt. Als sie Jahre zuvor ausländische Gäste durch eine Privatsammlung führte, hatte sie den Namen Dreux noch nie gehört – jetzt aber schlägt sie das "Hin und Her von Gut und Böse, Licht und Dunkelheit", die pure körperliche Präsenz des sterbenden Tiers in den Bann - und löst die Erinnerung an die Begegnung mit einer ehemaligen Schulfreundin aus, die sie lange nicht gesehen hatte. Wenig später wurde die junge Frau auf einem Spaziergang am Rande eines Jagdreviers zufällig erschossen, weil sie mit einem Stiefel im Schlamm steckenblieb. "Man schreibt etwas, um etwas ganz anderes zu erzählen" - der tiefe Eindruck eines Bildes verbindet sich mühelos mit der Erinnerung an einen völlig sinnlosen Tod.
Meditation über das Sehen
In jedem der elf Kapitel ihres Debütromans verknüpft María Gainza die Auseinandersetzung mit einem Bild im Leben ihrer Icherzählerin, der Kunstkritikerin María, mit biografischen Fragmenten, die ihr Leben bestimmten: ihrer Herkunft aus einer früher mal reichen, aristokratischen Familie, der Wiederbegegnung mit ihrem Bruder in San Francisco, einer Krebsdiagnose, ihrer Flugangst. Das geschieht leicht und elegant, wie eine spontane Spiegelung ihres Lebens in den Bildern, der Kunst, und ist zugleich eine Meditation über das Sehen, das Wahrnehmen: Ihre Beziehung zur bildenden Kunst ist die Achse, um die sich alles dreht.
"Mein Überlebensinstinkt führt mich aber jedes Mal ins Museum, so wie früher die Leute im Krieg in den Luftschutzkeller rannten."
Ihre Miniaturportraits der Künstler, El Greco, Toulouse-Lautrec, Henri Rousseau oder auch Mark Rothko sind so dicht, kundig und originell formuliert, dass sie an die Essays John Bergers erinnern und zum Weiterschauen und Erforschen einladen.
Brennende Dornbüsche
Wir erfahren, dass der erste Pfeil der Bilderbegeisterung sie schon in der Jugend traf, als sie sich in ein Seestück von Courbet verliebte, im Museo de Bellas Artes in ihrer Heimatstadt Buenos Aires, während ihre Freunde surften.
"Jedes Mal, wenn ich Mer orageuse betrachte, zieht sich etwas in mir zusammen, irgendwo zwischen Brust und Luftröhre, wie ein sanftes Reißen. Mittlerweile achte ich sehr auf dieses Gefühl, kommt mein Körper doch für gewöhnlich schneller zu Schlüssen als mein Verstand. Später – verspätet – betritt dann auch mein Intellekt die Bühne, und immer fehlt irgendetwas in seinem Werkzeugkasten."
Im literarischen Werkzeugkasten dieser Autorin, die als Kunstkritikerin und Kuratorin arbeitet, fehlt so gar nichts. Während sie wegen eines Augenzuckens in der Arztpraxis wartet, reflektiert sie über Mark Rothkos Bilder, die ihr wie brennende Dornbüsche erscheinen und sich aller flammenden Rhetorik zum Trotz niemals abnutzen, obwohl ihr Schöpfer sich selbst zerstörte.
Streifzüge durch Kunst und Leben
Sie schweift zurück in die Zeit der argentinischen Militärdiktatur, als ihr späterer Mann mit seiner ersten Frau und deren Bruder Charly auf ein Landgut flüchtete, während sie die Geschichte eines Malers erzählt, der im Krieg seine rechte Hand verlor, die linke trainierte und den Krieg gegen Paraguay meisterhaft malte - Candido Lopez, dessen Bilder sie nicht wiederfindet, weil sie gerade restauriert werden. Und mit Charly führt sie mitunter nächtliche Telefongespräche –
"Was genau er gemeint hatte, hätte ich nicht sagen können, es war ein bisschen wie bei einem Horoskop oder bei einem dieser Sprüche, die man in chinesischen Glückskeksen findet, aber so oder so entfaltet es mit der Zeit seine Wirkung."
María Gainza hat nicht nur eine genaue und ausgebildete Gabe des Sehens, sondern komponiert ihre Streifzüge durch die Kunst und das Leben so, dass man begreift, wie sehr es in der Kunst darum geht, in Beziehung zu treten, sich ihr zu öffnen. Der Schönheit und dem Schrecken gleichermaßen, um sich selbst besser zu erkennen.
(Lore Kleinert)
María Gainza, *1975 in Buenos Aires, argentinische Korrespondentin, Kunstkritikerin und Kuratorin, lebt in Buenos Aires
María Gainza "Lidschlag"
aus dem argentinischen Spanisch übersetzt von Peter Kultzen
Roman, Salto Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 168 Seiten, 19 Euro
Weiterer Buchtipp zu Maria Gainz
Schwarzlicht, Roman