Jiří Weil
Mendelssohn auf dem Dach
"Die Stadt lag wie unter dem Bannspruch eines bösen Zauberers, es war, als ob sich dort Gespenster bewegen würden, Schatten ohne Leben."
Trophäen des Dritten Reichs
Prag unter deutscher Besetzung, ein Albtraum, der in Jiří Weils Roman mit einer Posse beginnt: Reichsprotektor Reinhard Heydrich will die Statue des Komponisten Mendelssohn vom Dach des früheren tschechoslowakischen Parlaments, jetzt Haus der deutschen Kultur, entfernen lassen, doch keiner der Befehlsempfänger weiß, welche Statue er meint. Ein gelehrter Jude, Dr. Rabinowitsch, der sämtliche Kultgegenstände der aufgelösten Synagogen zusammenstellen soll, als Trophäen des Dritten Reichs im "Museum der ausgelöschten jüdischen Rasse", muss den Komponisten identifizieren, doch im Gewirr der Abhängigkeiten wird die Statue auf dem Dach schließlich nur flachgelegt.
Düstere Perspektive
So sehr diese Geschichte die Monstrosität der Naziokkupation ironisiert und mit kleinen Seitenblicken auf den Überlebenswillen der tschechischen Bevölkerung bereichert, so düster ist doch Jiří Weils Perspektive auf die Chancen, erfolgreich zu widerstehen. Mustergültige Beamte wie der Leiter des Zentralamts, verantwortlich, Heydrichs Befehle auszuführen, richten Theresienstadt als Ablenkungsmanöver zur Täuschung der Öffentlichkeit ein, und der Zwang zur Kollaboration ist allgegenwärtig:
"Wer sich mit denen einließ, mußte Böses tun, wurde gegen seinen Willen zu ihrem Helfershelfer, auch wenn er sonstwas im Sinne hatte, auch wenn er sich nur darauf einließ, um sie zu täuschen. Denn das Böse war ihr Reich und der Tod ihr Kompagnon, den stellten sie jedem als Wächter an die Seite. Bewache ihn und belle, befahlen sie, der Tod bewachte sein Opfer, jagte ihm mit Gebell Angst ein."
Wie ein böser Traum
Zwar gelingt das Attentat auf den Reichsprotektor und Besatzer Heydrich, doch der Tod des Henkers ändert nichts an den systematischen Abtransporten der jüdischen Bürger, und die Gewalt herrscht in der Stadt. Jiří Weil beschreibt die Atmosphäre im besetzten Prag wie einen bösen Traum, aus dem zu erwachen immer schwerer wird. Dennoch finden sich Momente der Freiheit, wenn etwa die beiden jüdischen Mädchen Adéla und Gréta Roubícek von Nachbarn versteckt werden und ein Netzwerk von Helfern alles riskiert, um kleine Breschen in die Glasglocke der Angst zu schlagen. Der Architekt Jan Krulis ist einer von denen, die ihre Stadt lieben und sich gegen den Tod wehren:
"Man kann auch anders gegen den Tod kämpfen, nicht, indem man sich duckt und sich in seiner eigenen Welt verschließt. Man kann sich dem Tod widersetzen – indem man Verfolgten Zuflucht bietet, Dokumente fälscht, Flugblätter verfaßt, Nachrichten ausländischer Rundfunksender verbreitet, Brücken in die Luft sprengt und Bahngleise beschädigt."
Hellsichtiges Vermächtnis
Jiří Weil, der schon ein kommunistisches Straflager überlebt hatte, kehrte 1935 nach Prag zurück und entging der Verfolgung nur durch einen vorgetäuschten Selbstmord. Nach dem Krieg wurde seine Arbeit als Schriftsteller erneut durch Publikationsverbote behindert. Zwar wurde er 1956 rehabilitiert, starb aber drei Jahre später. Die Absurdität politischer Repression hat er in drei totalitären Regimen am eigenen Leibe erfahren, und sein großer vergessener Roman lotet die menschliche Unzulänglichkeit und auch das Unvermögen von Kunst und Kultur im Angesicht von brutalem Terror aus, indem er die Geschichten der verstrickten Menschen erzählt. Der Roman ist sein hellsichtiges Vermächtnis.
(Lore Kleinert)
Jiří Weil, *1900 in Tschechien, Schriftsteller, Literaturkritiker, Journalist und Übersetzer, gestorben 1959 in Prag
Jiří Weil "Mendelssohn auf dem Dach"
übersetzt aus dem Tschechischen von Eckhard Thiele
Roman, Wagenbach Oktavheft 2019, 283 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro