Marie Darrieussecq
Unser Leben in den Wäldern
Ein schmaler Roman, gerade mal 110 Seiten, in dem uns die Ich-Erzählerin Marie ziemlich atemlos mitteilen will, dass sie aus einer Welt geflohen ist, in der der Mensch über implantierte Chips komplett vernetzt, ständig online und damit steuerbar geworden ist.
Digitale Diktatur
Das alles ist in großer Eile aufgeschrieben
"Ich schreibe, um zu verstehen und um Zeugnis abzulegen in ein Heft selbstverständlich, mit einem Holzbleistift mit Grafitmine, das gibt es noch: nichts, womit man online gehen könnte."
Wir befinden uns in … ja wo eigentlich? In einem nicht näher definierten Überwachungsstaat, in einer digitalen Diktatur, in der Innenwelt eines Roboters, der mit vielen anderen unsere Welt okkupiert? Es gibt in dieser nicht näher nach Ort und Zeit definierten Dystopie digital vernetzte Menschen mit Chips in Ohren, Armen und Kopf, d.h. sie sind ununterbrochen online, benutzen ihre Hände als Mouse in "windmühlenartigen Gesten, mit denen wir unsere Geräte in Gang setzen." Sie leben in fensterlosen Einraumwohnungen, und werden sie krank – soviel Körperlichkeit haben sie zum Glück noch – dann gibt es die buchstäblich bessere "Hälfte", den identischen Nachbau, einen Klon also, der als Organlager für sein Original fungiert.
Rückkehr zu den Ursprüngen
Ein minutiös kontrolliertes, unwirkliches Dasein also, aus dem Marie zusammen mit anderen Rebellen in die Wälder geflohen ist:
"Ringsum sehe ich ein Lager im Wald. Zelte und Planen. Löcher. Kohlenbecken in Ölfässern. Das Dach der Bäume, das uns vor den Drohnen schützt. Ein gehackter Internetzugang und ein paar zusammengebastelte Roboter. Trockenklos und eine Führung mit eiserner Hand. Eine Rückkehr zu den Anfangsgründen."
Man versteckt sich unter der Erde in Tunneln, genießt draußen echte Luft, die nicht mit dämpfenden Gasen und Trinkwasser, das nicht mit manipulierenden Substanzen angereichert ist. "Die" und ihr "Konzept" liegen hinter den Flüchtlingen, für eine Weile jedenfalls:
"Wenn man akzeptiert, ständig nasse Füße zu haben, nie mehr Kaffee zu trinken und heiße Duschen zu vergessen, kann man sich schon verstecken. Solange es noch Wälder gibt."
Marie war Psychoanalytikerin "...leistungsstark. Ich wurde gelobt. Eins mit Sternchen … Ich gehörte zu einem der Notfallpools von Therapeuten, die zu Beginn des Jahrtausends bei den großen Anschlägen eingesetzt wurde."
Noch fünfzig Jahre
Zusammen mit den anderen dämmert ihr, in welch bedrohliches System sie da geraten sind. Und als läge sie nun selbst auf der Couch, redet Marie schnell und ohne Pause, "schnattert", wie sie selbst sagt, assoziiert und fantasiert, fügt Bruchstücke ihres früheren Lebens hinzu, gespickt mit Erinnerungen an das, was mal Bildung genannt wurde, und berichtet von Klienten, die mit schweren Traumata zu ihr gekommen sind. Einer ihrer Lieblingsklienten ist der Klicker:
"Der muss Robotern all unsere geistigen Assoziationen beibringen, damit sie sie eines Tages an unserer Stelle hinkriegen. Man geht davon aus, dass das noch etwa fünfzig Jahre dauern wird."
Da wird Marie nicht mehr leben, sie hat schon eine neue Niere, eine halbe neue Lunge und auch ein Auge ist bereits wegoperiert. Aber noch sitzt sie da, liest bei Mondlicht Bücher aus Papier und sorgt sich um die "Hälften", die von der Rebellengruppe gerettet, "vertikalisiert" und zum Leben erweckt wurden. Aber sie agieren auf dem geistigen Niveau von Kleinkindern:
"Man weiß nie, was ihnen durch den Kopf gehen könnte. Nachts fixieren wir sie, damit sie nicht die Flucht ergreifen oder gar – Albtraum – uns verraten."
Mit den Händen greifen
Es ist ein ziemlich wildes und oft rätselhaftes Spiel aus Gedanken, Erinnerungen, Ängsten und Assoziationen, in das uns Marie Darrieussecq hineinziehen will und das nicht immer leicht zu verstehen ist. Aber sie hat eine klare Botschaft, die uns warnt vor einer nicht allzu weit entfernten Zukunft, in der wir buchstäblich nichts mehr selbst in der Hand haben:
"Wir verlassen diese Welt. Wir finden uns im Wald wieder, wir stützen die Tunnel in Handarbeit ab, wir rühren unsere Eintöpfe selbst um, mit dem Löffel … Wir greifen die Dinge mit den Händen."
(Christiane Schwalbe)
Marie Darrieussecq, *1969 in Bayonne/Südfrankreich, Psychoanalytikerin und Autorin, lebt in Paris
Marie Darrieussecq "Unser Leben in den Wäldern"
aus dem Französischen übersetzt von Frank Heibert
Roman, Secession Verlag für Literatur 2019, 110 Seiten, 18 Euro
eBook 15,99 Euro