Francesca Melandri
Alle außer mir
“Ich glaube, mein Vater hatte wie alle Menschen, die einen Krieg erlebt haben, ganze Räume mit Büchern in sich, in die er nie wieder hineingeschaut hat.“ Die Lehrerin Ilaria Profeti war als Liebling ihres Vaters Attilio von seiner untadeligen Vergangenheit im Umfeld des Partisanenkampfes gegen den Faschismus überzeugt, bei aller Skepsis über sein ausschweifendes Liebesleben: Neben der Familie mit drei Kindern hielt er sich eine Parallelfrau mit weiterem Sohn, die er schließlich heiratete.
Korruption der Nachkriegsjahre
Als ein junger Flüchtling aus Äthiopien vor ihrer Tür steht und sich auf Attilio als Großvater beruft, beginnt sie, die Vergangenheit ihres Vaters und seines Landes Italien aufzublättern, Schritt für Schritt, und sogar die kleine Wohnung auf dem Esquilin, die er ihr schenkte, kann nicht mehr mit Unschuld genossen werden. Als ihr jüngerer Halbbruder mit dem Flugzeug nach Rom eilt, gerät auch ihr linksliberaler Moralismus ins Wanken, denn der kleine Flughafen, aus Steuermitteln für einen Senator ausgebaut, kommt nun auch ihr zugute:
“Für sie ist das Schlimmste an der ganzen Flughafengeschichte nicht die Arroganz der Mächtigen, die Gewissheit der Straflosigkeit, die systemimmanent gewordene Kultur der privaten Bereicherung durch Diebstahl zum Schaden der Allgemeinheit, sondern der Umstand, dass sich nur wenige die Mühe gemacht haben, dagegen zu protestieren.“
Niemand kann sich die Unschuld bewahren, denn die Bestechlichkeit ist allumfassend, und die Geschichte und alles, was in den Familien verschwiegen wurde, fordern ihren Preis. Die römische Dokumentarfilmerin und Schriftstellerin Francesca Melandri entwirft in ihrem Roman ein Panorama des vergangenen Jahrhunderts, das einen unglaublichen Sog entwickelt. Es gelingt ihr, die endlose Korruption der Nachkriegsjahre bis hin zur Berlusconi-Herrschaft durch den siegreichen Aufstieg Mussolinis und seine blutigen Kolonialkriege in Libyen und vor allem Äthiopien begreiflicher zu machen - ein Gegenwartsroman also mit großem politischen Verständnis und ebenso ein historischer Roman mit vielfältigen Erklärungsmustern für den gegenwärtigen Rassismus und Sexismus.
Leichte Beute
Melandri gelingt es zudem, die wechselnden Blickwinkel aller Beteiligten mit intensivem Leben zu füllen. Mit Attilio, dem Vater, der mit der Begeisterung seiner zwanzig Jahre in den Abessinienfeldzug zieht, mit dem Schlächter Kyrenaika Graziani, der an Gräueltaten und Giftgaseinsätzen beteiligt ist und später zur rechten Hand eines widerwärtigen Rassenforschers avanciert, lernen wir einen jungen Mann kennen, der mit blendendem Aussehen gesegnet ist und zur leichten Beute des Duce wird, wie so viele.
“Klar war ihm aber auch, dass er der Jugend, die als erste zu überzeugen war, besser nicht mit Waffen und Tod kam, sondern bei ihr auf einen stärkeren Trieb setzen musste: den Sex…Als die heimatlichen Bordelle von den Bildern äthiopischer Frauen überflutet wurden, reagierten die jungen Männer Italiens begeistert. In Scharen meldeten sie sich für Afrika, das jungfräuliche Land, das entjungfert werden wollte.“
Mit weißer Weste
Mit welcher Brutalität das Land erobert und die afrikanischen Frauen unterworfen und benutzt wurden, beschreibt Melandri akribisch und mit profunden historischen Kenntnissen. Zehn Jahre lang hat sie Quellen gesammelt und ausgewertet, die engen religiösen und von Klassenschranken geprägten familiären Verhältnisse untersucht, und an der Familie Profeti lässt sich die soziale Mobilität ablesen, die typisch für das Italien des 20. Jahrhunderts war und in ihrer Dynamik auch vergleichbar mit Deutschland ist. Attilio lebt mit Abeba zusammen, die später seinen Sohn großzieht, und nach dem Ende von Mussolinis Kolonialabenteuer bleibt nichts davon - er macht, gestützt auf alte Seilschaften, Karriere mit weißgetünchter Weste, wie so viele eben. Als er 45 Jahre später mit einer Gruppe von Investoren und Journalisten wieder in Addis Abeba ist, rettet er zwar seinen Sohn aus dem Gefängnis, nicht aber vor dem Tod, und die Heimlichkeit und Sprachlosigkeit bleibt, bis zu seinem Tod.
Tränen des Glücks
Der Enkel Abebas schließlich, und das ist sicher der berührendste Erzählstrang dieses großen Romans, steht für die vielen, die keine andere Möglichkeit als die Flucht haben, um den Mördern zu entkommen, und die sich, wenn überhaupt, erst im letzten Moment von ihrer Mutter verabschieden können:
“Sie weinte, wie der Junge es vorhergesehen hatte, doch nicht aus Schmerz. Es waren Tränen des Glücks. Auch wenn es stimmte, dass sie ihn nie wiedersehen würde, so bliebe er doch am Leben. Eine Mutter, die glücklich ist, ihren Sohn nie wiederzusehen, gibt ihre Zukunft auf. Sie weiß, er wird sie im Alter nicht pflegen. Der Sohn, der sich verabschiedet, verzichtet auf die Vergangenheit: Raus zu gehen, ist zu hart und gefährlich, um sich auch noch die Last der Nostalgie auf den Rücken zu binden.“
Nach jahrelanger Tortur in den Lagern Libyens landet “der Junge“ wieder in Abschiebehaft, und die Lehrerin Ilaria muss sich entscheiden, ob sie ihren hehren Prinzipien treu bleibt oder private Kontakte mit einem Berlusconi-Minister nutzt, um ihn frei zu bekommen. Wenn die falschen, geschönten Bilder korrigiert werden, wächst die Chance, zumindest klarer zu sehen, und Francesca Melandris vielstimmiger Roman ist, wie der Kritiker der “La Repubblica“ schreibt, eine längst überfällige “Reise in die italienische Seele“.
(Lore Kleinert)
Francesca Melandri “Alle außer mir“
"Sangue giusto" übersetzt aus dem Italienischen von Esther Hansen
Roman, Klaus Wagenbach Verlag 2018, 608 Seiten, 26 Euro
eBook 23,90 Euro