Francesca Melandri
Kalte Füße
„Nur die in Erzählung verwandelten Erinnerungen formen später den Zustand des ‚So ist das damals gewesen‘. Alles andere bleibt darunter verborgen wie die unter den Eisschichten oder noch tiefer im Permafrost eingelagerten Gneise. Ein Winter legt sich über sie, der viele Generationen, wenn nicht ewig dauert…“
Erinnerungen
Francesca Melandris Vater verwandelte seine Erinnerungen in Romane, drei waren es, und erst 30 Jahre nach dem Krieg stießen sie auf Interesse – allerdings nicht allzulange. Die Tochter nimmt die Geschichten auseinander, setzt sie wieder zusammen, läuft Sturm gegen Beschönigungen und Legenden und schreibt so diesen Teil ihrer Familiengeschichte neu, in der Nachfolge ihrer Romane, der ‚Trilogie der Väter‘. Der Auslöser: der Krieg, der russische Angriff auf die Ukraine, denn als die Orte und Bilder sich ins Bewusstsein der Zuschauer im Westen eingraben, wird ihr klar, dass ihr Vater im Krieg vor achtzig Jahren genau hier kämpfte: Teil des Russlandfeldzugs war, der „in Wahrheit ein Ukrainefeldzug war“, wie die Autorin nicht müde wird zu betonen. In der Ebene zwischen Don und Donez befand sich der Kommandositz des Armeekorps der Alpini, der ital. Gebirgsjäger, zu der die Division Julia gehörte, und der junge Leutnant Melandri, in seinen Büchern heißt sein Alter Ego Leutnant Marco, war gehorsamer Verbündeter des deutschen Vernichtungskriegs. Im Zwiegespräch mit dem längst verstorbenen Vater stellt Melandri in erster Linie Fragen.
„Was hast du mit deinem persönlichen Faschismus gemacht, als es mit dem kollektiven Faschismus vorbei war? Hat er in dir überlebt wie ein Virus, das sich versteckt und von einem Moment auf den anderen deine Nervenbahnen zerstören kann? Oder ist er verschwunden wie ein böser Infekt, besiegt von den weißen und roten Blutkörperchen aus persönlichen wie kollektiven Tragödien?“
Kollektives Gedächtnis
Sie spürt der Geographie der Erinnerung nach, indem sie die Familiengeschichten untersucht und der Wahrheit, die in ihnen meist gut versteckt ist, auf die Spur kommt, und zugleich versucht sie, den Vater zu verstehen, ihm nahezukommen. Vor allem aber bezieht sie das eigene Wissen und Unwissen ein, die Haltung der jüngeren Generationen, die den Krieg ihrer Eltern als überwunden betrachteten. Damit demontiert sie die Kulissen unseres so hochgehaltenen Pazifismus angesichts des neuerlichen Angriffs auf ein friedliches Land.
„Der Krieg hat unseren Kontinent erreicht. Und sosehr wir auch wollen, dass er wie von Geisterhand wieder verschwindet – nein, er verschwindet nicht. Unsere Allmacht ist ausgehöhlt.“
Im kollektiven Gedächtnis Italiens hat sich der Russlandfeldzug als Trauma eingebrannt: die erfrorenen Füße der schlecht ausgerüsteten Soldaten, die Zehntausende von Toten wirkten nachhaltiger als die Frage, warum man an der Seite Deutschlands in der Ukraine kämpfte. Als Italien im September 1943 kapitulierte, war der Mythos des antifaschistischen Widerstands ein mächtiger Mantel, der eine genauere Selbstbefragung, eine Konfrontation mit eigener Schuld verhinderte. Francesca Melandri untersucht diese Mechanismen, und sie setzt sich ebenso mit dem Putinschen Imperialismus in der Nachfolge des russischen Kolonialismus auseinander. Das schließt die Frage mit ein, welche Ursachen es vielen Westeuropäern heute schwer machen, ihn richtig einzuschätzen. Unwissen spielt eine gewichtige Rolle - dass ukrainische Kunst und Literatur nach der Zarenzeit eine Blütezeit erlebten, wusste man kaum, ebenso wenig, dass Stalin dann in den Dreißigerjahren die Russischsprachigkeit zum sowjetischen Dogma erklärte und fast die gesamte Intelligenz der Ukraine ermorden ließ.
Zwiegespräch
Heute tauchen die von Russland eroberten und zerstörten Orte als ‚entnazifiert‘ in den russischen Nachrichten auf. Im Zwiegespräch mit dem Vater versucht Melandri eindrucksvoll, ihre Position neu auszurichten, denn die uns vertraute Geografie des Lebens verändert sich, je mehr bislang übersehene und verdrängte Erinnerungen zur Sprache kommen.
„Eins hab ich verstanden, Papa: Das Gegenteil von Krieg ist nicht Frieden um jeden Preis, sondern Rechtsstaatlichkeit. Es sind die Gesetze, die den Schulhoftyrannen daran hindern, den Schwächeren zu verprügeln, und die den Schwächeren vor Schikanen schützen.“
Historische Verantwortung bedeutet, sich der Wirklichkeit des Krieges zu stellen, mit Hilfe der Erinnerung an die Diktaturen der Vergangenheit und in Konfrontation mit denen der Gegenwart, daran lässt Francesca Melandris sehr persönliches Buch keinen Zweifel. Nach den Jahrzehnten der Nachkriegszeit in Europa, in denen das Schweigen der damals Beteiligten mühsam gebrochen und Lügen widerlegt werden mussten, stellen sich heute erneut viele Fragen neu:
„Aus Kriegen lernt man alles, aus Kriegen lernt man nichts. Eines Tages wird auch dieser Krieg enden, Papa, so wie deiner eines Tages endete. Was werden wir daraus gelernt haben?“
(Lore Kleinert)
Francesca Melandri, *1964 in Rom, gehört zu den beliebtesten italienischen Autorinnen der Gegenwart, Autorin von Drehbüchern und Romanen
Francesca Melandri „Kalte Füße“
aus dem Italienischen von Esther Hansen
Roman, Wagenbach Verlag 2024, 288 Seiten, 24,00 Euro
e-Book 19,99 Euro