Véronique Ovaldé
Wütendes Mädchen auf einer Steinbank
„Manchmal gerät die Welt aus den Fugen…das Resultat ist Zusammenbruch, das Resultat ist Schrecken, und der Schrecken währt lange, er löscht alles aus.“ Die Welt der achtjährigen Aida gerät aus den Fugen, als ihre jüngste Schwester Mimi in einer Karnevalsnacht verschwindet.
Trauma
Acht Jahre lang spricht der Vater nicht mit ihr, sie wird zum Sündenbock abgestempelt, und schließlich flüchtet das „wütende Mädchen“, das Mathematik liebte, auf Anraten ihrer Mutter nach Palermo. Ihr Freund wird schließlich ihre älteste Schwester heiraten. Nach weiteren fünfzehn Jahren, in denen sie in Palermo ein armseliges, aber unangepasstes und selbstbestimmtes Leben führt, laden ihre älteren Schwestern sie zur Beerdigung des Patriarchen auf die Heimatinsel vor der sizilianischen Küste ein. Die Erinnerung scheint vergoldet, doch nach Mimis Verschwinden bewegte sich die gesamte Familie nach den Gesetzen des Traumas.
"Ich könnte so etwas schreiben wie: Sie waren vier unzertrennliche Schwestern, denen das schönste aller Leben versprochen wurde. Da waren Violetta die Königin, Gilda die Pragmatikerin, Aida die Favoritin und Mimi der Kolibri.“
Das schöne Leben hat sich für niemanden eingestellt. Als kleiner, geschnitzter Vogel taucht der Kolibri wieder auf und legt für Aida eine Spur, wohin ihre kleine, wilde Schwester Mimi geraten sein könnte.
Lügen
Die Autorin umkreist die Vergangenheit der drei überlebenden Schwestern, ihrer Eltern, legt ihre Verwundungen und Lügen schonungslos bloß. In Furcht gefangen sind sie alle, die Mutter „zugleich anwesend und nebulös“, der griesgrämige Vater hatte sich längst zum Familientyrann aufgeschwungen: „„Wut ist ein glitschiger Abhang, genauso wie Grausamkeit.“
Dennoch ist die Mutter nach wie vor überzeugt, dass ihre Jüngste noch lebt. "Ihre Eltern waren gefangen in der unveränderlichen Geometrie der Paare - sie befürchtete, dass ihr Mann gewalttätig werden würde, er befürchtete, dass seine Frau am Ende verrückt werden würde."
Sie selbst und ihr Mann Salvatore Salvatore, der „doppelte Retter“, sind durch Zufälle reich geworden und in der Hierarchie der sizilianischen Inselwelt zwar aufgestiegen, aber nicht sehr angesehen.
Rache
Die Blicke in die Hierarchie des kleinen Ortes auf der Insel Iazza sind ebenso tragisch wie komisch, das Leben in den kleinen italienischen Dörfern, die ein wenig am Rande liegen, erfasst die Autorin klischeefrei und mit Sympathie für ihre besonderen Probleme. Durch Aidas Augen und gefiltert durch ihren beißenden Humor beobachten wir, wie die übriggebliebene Familie langsam zerfällt. Rache spielt dabei eine geringere Rolle als Schuld und zerstörerische Nähe, und bevor das Rätsel um das Verschwinden der jüngsten Schwester nicht gelöst wird, kann es keinen Frieden geben. Diese Leerstelle hat Macht über die überlebenden Familienmitglieder und alle, die ihnen nah sind, und die Autorin verknüpft ihrer aller Geschichte mit der Suche nach der Wahrheit, mal fast als polizeiliche Ermittlung, mal sogar als Liebesgeschichte. Schade nur, dass sie dabei nicht auf die gelegentlichen Kommentare einer allwissenden Erzählerstimme verzichtet hat.
(Lore Kleinert)
Véronique Ovaldé, *1972, Lektorin, eine der bekanntesten, vielfach ausgezeichneten Autorinnen Frankreichs, lebt in Paris
Véronique Ovaldé „Wütendes Mädchen auf einer Steinbank“
aus dem Französischen von Sina de Malafosse
Roman, Frankfurter Verlagsanstalt 2024, 315 Seiten, 24 Euro
eBook 18,99 Euro