Leon de Winter
Stadt der Hunde
„Sein technisches Wissen über das Gehirn war exemplarisch, er gehörte zu den hundert besten Neurospezialisten der Welt, aber die Eigenarten der elektrochemischen Wunder, die sich darin abspielten und zu Vorstellungen von kosmischem Gleichgewicht und Ungleichgewicht führten, blieben für ihn und seinesgleichen letztlich unbegreiflich.“
Unvollendet
Jaap Hollander kann sich Gesichter nur merken, wenn er, ein Filmliebhaber wie Leon de Winter selbst, sie mit denen von Filmstars in Verbindung bringt. Der berühmte Neurochirurg hat wenig Interesse an anderen, seine lieblose Ehe ist längst geschieden, und seine Liebeleien sind oberflächlich. Aber er fährt immer wieder nach Israel, wo seine Tochter Lea mit ihrem Freund vor zehn Jahren im riesigen Ramon- Krater in der Negev-Wüste verschwand. Lebt Lea noch? Jaap hält wider besseres Wissen nach seiner Pensionierung daran fest.
„Jaap lebte mit Möglichkeiten, Optionen, Theorien, Szenarien, und darin spielte Lea natürlich eine Rolle, aber er weigerte sich, sich in Melancholie oder Nostalgie oder etwas Ähnlichem zu verlieren. Ohne Beweise oder Anhaltspunkte konnte er sich nicht mit etwas abfinden, das unvollendet war. Und es war unvollendet. Lea war nach Israel gegangen und noch nicht wieder nach Hause gekommen. Das war’s.“
Facettenreich
Nicht alles ist in diesem facettenreichen Roman so, wie es zunächst scheint, denn de Winter folgt seinen Figuren in Welten, die außerhalb der Literatur schwer fassbar sind. Jaap wird vor eine Aufgabe gestellt, die durchaus politische Implikationen für Israels Zukunft wie die des Mittleren Ostens beinhaltet. Wird die saudische Prinzessin, Tochter des ‚Herrschers‘, zu deren fast aussichtsloser Hirn-Operation ihn der israelische Ministerpräsident für eine enorme Summe Geld überredet, überleben? Viele Handlungsstränge webt de Winter durch seinen Roman, stellt Bezüge zu Vätern und Töchtern her, zu den sozialen und erotischen Beziehungen zwischen Mann und Frau, zum Sinn und Unsinn von Religion, zum Überleben des jüdischen Staats, zur Macht des Zufalls. Die Operation reizt den Spezialisten vor allem wegen des Geldes, und sie wird zum Ausgangspunkt seiner Veränderung.
„Jaap kehrte aus einem Zustand zurück, in dem er eigentlich nicht existiert hatte; er war während der vielen langen Stunden nichts als ein Bündel tiefer Konzentration gewesen, in vollkommener Trance, ohne Zeit, ohne Raum, ein Erfüllungsgehilfe einer Kraft, die größer war als er selbst. Er konnte so sein, wenn er musste, wenn ein Leben auf dem Spiel stand.“
Hunde allerdings sind ihm einigermaßen lästig und fremd, und in Tel Aviv gibt es viele. „Überall Hunde, das war ihre Stadt, gefolgt von Menschen, die nicht merkten, dass sie von ihren Hunden Gassi geführt wurden.“ Auf einem Hundehaufen auszurutschen und sich am Kopf zu verletzen, gehört zu den Überraschungen, die der Autor für sein Geschöpf bereithält.
Fremde Gefühle
Als dann ein streunender Hund mit Jaap zu sprechen beginnt, wird seine Welt buchstäblich auf den Kopf gestellt, und sein eigener Kopf kommt samt Inhalt auf den Prüfstand. Ibrahim, der Wüstenhund erweist sich als außergewöhnlicher Gesprächspartner.
„Ihr glaubt, ihr hättet euch weiterentwickelt, indem ihr den abergläubischen Ritualen der Vergangenheit abgeschworen habt. Ihr seid dumm! Aber wir sind immer noch da. Seid froh, dass es uns gibt! Wenn ihr euch manchmal fragt: Womit haben wir die Hunde verdient?, dann solltest du wissen: Ihr habt uns gar nicht verdient, ihr seid unmoralische, nackte Affen. Wir tun es aus Liebe.“
Liebe aber bedeutet für Jaap, Trauer zu erleben, sich für Gefühle, die ihm fremd sind, zu öffnen und sie so ernst zu nehmen wie seine bemerkenswerten technischen Fähigkeiten. Leon de Winters Blick auf den alternden Zyniker ist in seinem fünfzigsten Roman voller Esprit und schließlich auch Mitgefühl, mit unvorhersehbaren Wendungen, denen man gern folgt. Ein Buch für eine vermisste Tochter und eine Geschichte über Hirnanomalien, Halluzinationen und Hunde.
(Lore Kleinert)
Leon de Winter, *1954 in ’s-Hertogenbosch, mehrfach ausgezeichneter niederländischer, jüdischer Schriftsteller und Filmemacher
Leon de Winter „Stadt der Hunde“
aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer
Roman, Diogenes Verlag 2025, 270 Seiten, 26 Euro
eBook 22,99 Euro, Hörbuch 11,95 Euro
Weiterer Buchtipp zu Leon de Winter
Das Recht auf Rückkehr