Han Kang
Unmöglicher Abschied
Gyenongha leidet unter Alpträumen, immer wieder erscheinen ihr schwarze Baumstümpfe auf einem Acker, dahinter das Meer, Schnee fällt, das Wasser steigt. Ein Friedhof denkt sie, die Träume wurden vielleicht ausgelöst durch ihr Schreiben über Folter und Völkermord. Über das Massaker während der Studentenunruhen in Gwangju.
Geheimnisvolle Bilder
„Ich wanderte zwischen den dunklen Stämmen, auf denen Schneeflocken wie Salzkristalle lagen, und den jeweils dahinter liegenden Erdhügeln umher. Unvermittelt blieb ich stehen, weil ich seit einer Weile Wasser unter meinen Turnschuhen spürte ... Ich wandte mich um und traute meinen Augen nicht. Dort, wo ich am Ende des Ackers den Horizont wahrgenommen hatte, befand sich ein Meer. Gerade kam die Flut ... warum legt man an solch einem Ort einen Friedhof an?”
Gemeinsam mit ihrer Freundin Inseon, einer Fotografin und Dokumentarfilmerin, hatte sich die Ich-Erzählerin und Schriftstellerin Gyenongha vor geraumer Zeit ein Kunstprojekt ausgedacht, das bislang nicht zustande kam. Die Idee: Als Abbild ihres Alptraums „Baumstämme in der Erde einzugraben, sie mit schwarzer Farbe anzustreichen und darauf zu warten, dass irgendwann Schnee fiel, um es in einem Video festzuhalten.”
Insel im Schnee
Inseon hat auch eine Ausbildung zur Tischlerin gemacht und lebt in ihrem Elternhaus auf der Insel Jeju. Eines Tages meldet sie sich - nach einem Unfall mit einer Kreissäge liegt sie im Krankenhaus und bittet Gyenongha, so schnell wie möglich in ihr Haus zu fahren und ihren Vogel zu versorgen. Die Freundin macht sich auf den Weg, erreicht mit dem letzten Flug die Insel, auf der ein heftiger Schneesturm tobt. Eine Odyssee beginnt - mit einem der wenigen Busse, die noch fahren, kommt sie in die Nähe des Dorfes, geht zu Fuß weiter, kämpft ums Überleben in Kälte und Sturm, findet schließlich, halb erfroren und verletzt, das Haus der Freundin. Aber der kleine Papagei hat nicht überlebt. Was sie auch findet: zahlreiche schwarz bemalte Baumstämme.
Han Kang erzählt das nicht gradlinig und chronologisch, sondern verändert die Perspektiven, wechselt Orte und Zeiten und verwischt die Grenzen zwischen Traum und Realität - in den Erinnerungen an ihre gemeinsame Arbeit, an Besuche auf der Insel, an die zunehmende Demenz der Mutter, mit der Inseon zusammenlebte. Schon in ihrer Kindheit war Gyenongha fasziniert von Eiskristallen und Schneeflocken. Ihre Schönheit, die kristalline Struktur und die Eigenschaft von Schnee, Geräusche zu dämpfen, Dinge zu bedecken und unsichtbar zu machen - das ist Han Kangs beherrschende Metapher in diesem Roman.
Spurensuche
Hinter Gyenonghas Alptraum verbirgt sich ein tabuisiertes Massaker im Jahr 1948, als mehr als 30 000 Menschen ermordet wurden, weil man ihnen unterstellte, mit den Kommunisten zu sympathisieren. Unter den Toten waren auch Angehörige von Inseon. Das Bild von den dunklen Stämmen erklärt sich: Zu Tausenden wurden die Menschen erschossen, alte Minenschächte dienten als Massengräber.
„Armeelastwagen fuhren tagelang dort ein und aus. Es gibt Zeugenaussagen der Einwohner, die vom Morgengrauen bis zum Abend Gewehrsalven vernommen haben. Als die Minenschächte mit Leichen gefüllt waren, verlegten sie das Geschehen in ein Tal, wo sie fortfuhren, ihre Opfer niederzustrecken und zu vergraben."
Plötzlich taucht im Haus die Freundin auf, lebendig, wie aus dem Nichts. Vision, Fiebertraum, Trugbild oder Halluzination – Han Kang unterscheidet nicht, sie vermischt die Ebenen und läßt die beiden Frauen eine schmerzhafte Spurensuche beginnen – in alten Papieren, Notizen, Fotos, Namenslisten, Zeitungsausschnitten und Briefen, gesammmelt von der verstorbenen Mutter, die beweisen, mit welcher unvorstellbaren Brutalität die Regierungstruppen vorgingen.
„Unmöglicher Abschied" ist nicht leicht zu lesen, oft verstörend, manchmal pathetisch und surreal, aber insgesamt poetisch kraftvoll, eindringlich und stilistisch außergewöhnlich. Han Kang, Literaturnobelpreisträgerin 2024, bekam den Preis, so hieß es u.a. in der Begründung, für ihre "intensive Prosa, die sich historischen Traumata stellt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens aufzeigt". Auch in diesem Roman.
(Christiane Schwalbe)
Han Kang *1970, wichtigste südkoreanische Schriftstellerin, erhielt 2024 den Nobelpreis für Literatur, sie lebt in Seoul.
Han Kang "Unmöglicher Abschied"
aus dem Koreanischen übersetzt von Ki-Hyang-Lee
Roman, Aufbau-Verlag 2024, 315 Seiten, 24 Euro
Weitere Buchtipps zu Han Kang:
Weiß
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