Igiaba Scego
Kassandra in Mogadischu
Es geschieht am letzten Tag des Jahres 1990 – Bilder aus Somalia flimmern über den Fernsehbildschirm: „Es war das erste Mal, dass ich den Namen meines Herkunftslandes, des Landes, in dem meine Eltern geboren waren, im Fernsehen hörte. Normalerweise kümmerte sich das Fernsehen nicht um uns. Ein bisschen so wie heute. Auch heute kümmert es sich nicht um uns. ... Ich weiß nicht, ob ich eher Verwunderung empfand oder Schreck. Ich weiß nur, dass ich meinen Vater ansah und ihn fragte: „Aabo, ist alles in Ordnung?"
Das Unheil vor Augen
Nichts ist in Ordnung, denn in Somalia beginnt der Bürgerkrieg. Und Hooyo, auf Somali "Mutter", ist gerade erst dorthin geflogen, mitten hinein in den Krieg. Zwei Jahre lang wird sie verschollen sein. Ihr Mann, ein angesehener Politiker und Diplomat Somalias, der mit seiner Frau vor der Diktatur geflüchtet war, musste die Kinder als Faustpfand zurücklassen. In Rom bauen sich die beiden unter ärmlichsten Bedingungen eine neue Existenz auf und bekommen eine Tochter. Sie ist "Ayeyo", Tante, und die Ich-Erzählerin, die eines Tages ihrer Nichte Soraya in Kanada in einem langen Brief davon erzählt – ein Brief, der ein Roman wird über das Leben ihrer großen Familie in der Diaspora. An jenem Silvesterabend aber „war mein Tanz wie verstümmelt" und sie fühlt sich das erste Mal wie:
„Kassandra, die Tochter des Priamos, beim Anblick des verdammten hölzernen Pferdes vor den Mauern der Stadt. Kassandra sah das heranziehende Unheil. Und auch ich sah das Unheil ..."
Verlorene Heimat
Teil des Unheils ist der Jirro, diese in so vielen quälenden Farben schillernde Krankheit derer, die ihre Heimat verlassen mussten – der Jirro ist Trauma, Schmerz, Trauer und Hass, körperliches und seelisches Leid, er ist Sehnsucht und unvergessliche Erinnerung an eine verlorene Heimat, an eine Familie, mit der man sich „auf irgendeiner Grenzlinie" traf. Er ist „unser gebrochenes Herz". Das niemals aufhört zu schmerzen und im „Museo delle Civiltà" in Rom, in dem Ayeyo jedes Mal „ein Schauder" überfällt, fast körperlich zu spüren ist.
„Wenn man eine widersprüchliche, zwiespältige, schmutzige Vergangenheit durchquert, fühlt man sich nie gut. Und in diesem Museum ... befindet sich unsere Vergangenheit. Unsere kolonialisierten Vorfahren. Die Brutalität, die vergeblich versucht hat, sie zu unterwerfen. ... den Schmerz, den Jirro, an Gegenständen zeigen, die von Bösartigkeit gesättigt sind."
Von dieser Vergangenheit erzählt Igiaba Scego in ihrem Roman, trägt in Rückblicken die Lebensgeschichten ihrer Familie zusammen, verknüpft sie zu einem beeindruckenden Mosaik aus Sehnsüchten und Hoffnungen, in deren Mittelpunkt die Mutter steht – Aabo: Ihre Kindheit verbrachte sie im Busch, war Nomadin und Kamelhirtin, lernte das Alphabet und hatte doch nie Gelegenheit, es zu benutzen. Nach ihrer Rückkehr aus dem somalischen Bürgerkrieg schweigt sie – nur selten läßt sie sich die eine oder andere Erfahrung entlocken:
„Meine Mutter öffnet Klammern, die sie dann zu schließen vergisst. Sie bewegt sich in einem Kreis, in dem sich die Zeit verflüchtigt zu haben scheint. Manchmal scheint sie in ihrer Geschichte zu ertrinken. Und ich bin ihre Schreiberin ... Manchmal quält sie die Erinnerung an die durchlebte und überwundene Armut fast so sehr wie der Krieg."
Lebendige Spurensuche
Ihre Schreiberin ist klug, geschickt – und geduldig, fügt alles zu einem großen Ganzen zusammen, verknüpft mit der Geschichte des Landes: Italien als Kolonialmacht in Somalia, das britische Mandat, die Besetzung durch Mussolini, die Diktatur Siad Barres, der Bürgerkrieg. Sie selbst ist in Rom geboren und buchstäblich hin- und hergerissen zwischen zwei Ländern, die kaum gegensätzlicher sein könnten und beide doch Heimat für sie sind – trotz N-Wort und Rassismus in Italien, den sie als Kind in der Schule erlebt hat.
Eine Familie in der Diaspora – alle Zeugnisse ihrer Existenz, Dokumente, Archive, Familienalben sind zerstört, verschwunden, unauffindbar. Einzig das Erzählen bewahrt Leben, Traditionen und Kultur derer, die überall in der Welt ein neues Leben angefangen haben. Scego hat sich auf eine spannende Spurensuche begeben und die vielen losen Fäden zu einem Netz geknüpft, das von Seite zu Seite dichter und lebendiger wird, ernst ist und immer wieder auch heiter und humorvoll, wenn sie somalische Begriffe zur Verstärkung benutzt - damit die Sprache nicht ganz verloren geht. Berührend erzählt sie nicht nur von der Mutter, der sie mit diesem Roman ein Denkmal setzt, sondern auch von Brüdern, Schwestern und Tanten, die mit diesem hartnäckigen Jirro leben gelernt haben. Ein beeindruckender Roman über ein Land, von dem wir kaum etwas wissen.
(Christiane Schwalbe)
Igiaba Scego, *1974 in Rom in einer somalischen Familie, Studium der Literartur und Pädagogik, Autorin mehrerer Romane und Erzählungen für Zeitungen und Zeitschriften
Igiaba Scego "Kassandra in Mogadischu"
aus dem Italienischen von Verena von Koskull
Roman, S. Fischer 2024, 416 Seiten, 26 Euro
eBook 19,99 Euro