Jean-Philippe Blondel
Ein Winter in Paris
Victor lebt mit seinen Eltern in der französischen Provinz, will aber mit 18 den Sprung in eine akademische Ausbildung wagen. Er geht nach Paris und schafft es bis ins zweite Jahr der "Vorbereitungsklassen des literarischen Zweigs, in der man sich auf das Auswahlverfahren für eine der elitären Écoles normales supérieures vorbereitet."
Soziale Ausgrenzung
Nicht nur das Büffeln ist eine Qual, mehr noch sind es soziale Ausgrenzung durch die Schüler und Demütigungen durch die Lehrer. Als Provinzler aus einfachen Verhältnissen ist er ohnehin ein Exot. Er geht mit Kindern aus hoch gebildeten Familien in eine Klasse, Söhne und Töchter von Ärzten, Juristen, höheren Beamten. Ein tragisches Ereignis erschüttern die gesamte Schule. Mathieu, ebenfalls aus einfacher Familie, stürzt sich in der Schule die Treppe hinunter – Selbstmord.
"Er hatte einen Aussetzer. Clauzet hatte ihn wieder mal fertiggemacht und ihm das Gefühl gegeben, er sei der größte Dummkopf aller Zeiten ...Viele schienen zu glauben, dass ein Selbstmord ein Zeichen für die Effizienz der Vorbereitungsklassen war. Es bedeutete, dass der Druck für die Schwächsten einfach zu groß war und sie sich von selbst eliminierten."
Hinter der Fassade
Victor und Mathieu hatten sich vorsichtig angefreundet, hin und wieder zusammen eine geraucht - Freundschaft war das noch nicht. Dennoch steht Victor plötzlich im Mittelpunkt, als der "einzige Freund". Der Star der Klasse sucht seine Nähe, er ist schwul, meint dies auch bei Mathieu "gespürt" zu haben. Sein großer Bruder hat die Familie verlassen. Victor wird ihm zum Ersatz - und der sieht erstmals hinter die Fassaden der Reichen und Privilegierten, sieht die Risse in den Familien, die nur notdürftig vertuscht werden.
"Neidisch. Das war das erste Adjektiv, das mir in den Sinn kam. Ich spürte die Verletzung. Sie ging sehr tief. Ich war neidisch. Auf alles. Auf diesen tollen großen Bruder, der es fertiggebracht hatte, seinen goldenen Käfig zu verlassen …"
Plötzliche Aufmerksamkeit
Zu Mathieus Vater, der verzweifelt nach Gründen für den Selbstmord des Sohnes sucht, baut er eine engere Beziehung auf. Er gehört er zu denen, die Victor mit Aufmerksamkeit überhäufen:
"Plötzlich wollten alle mit mir reden. Mit mir, dessen Leben bisher aus Selbstgespräch bestanden hatte, aus schriftlichen Interpretationen ... Manchmal wurde es mir fast zuviel."
Victor ist gerade 19, als dies alles passiert - er muss von einem Tag auf den anderen erwachsen werden, seine Rolle finden, sich für und gegen Menschen entscheiden.
Anrührend und kritisch
Blondel schreibt dies alles im Rückblick, als Ich-Erzähler, der 30 Jahre später ein bekannter Romanschriftsteller geworden ist. Und eines Tages einen Brief von Mathieus Vater bekommt ... Es ist nicht nur eine anrührende Geschichte, die er liebevoll erzählt, es steckt auch viel Kritik am französischen Bildungssystem darin, am gnadenlosen Leistungsdruck, dem nur die Privilegierten gewachsen sind. Was die Lektüre immer wieder unerfreulich macht, ist die Übersetzung, oft - so scheint es - eins zu eins, wenig einfühlsam und allzu schlicht.
(Christiane Schwalbe)
Jean-Philippe Blondel, *1964 in Troyes/Seine, Lehrer und französischer Autor mehrerer Romane und Jugendbücher, lebt in Troyes
Jean-Philippe Blondel "Ein Winter in Paris"
aus dem Französischen von Anne Braun
Deuticke Verlag 2018, 192 Seiten, 19 Euro
eBook 14,99 Euro