Lola Lafon
Komplizinnen
„Jede Familie brachte dafür eine einzigartige Sprache hervor. Bestimmte Worte schwebten zwischen ihnen wie ein beharrlicher, zäher Nebel. Eine komplizierte Geschichte. Andere wogen schwer wie die Nacht. Zu etwas anderem übergehen. Alle Familien kannten die Anleitung zu diesem Prozess des Bleichens: War ein Wort zu grell, so tauchte man es in ein Leugnungsbad, bis nur noch seine Kontur übrig blieb…“
Geheimnisvolle Stiftung
Die Familie der 13jährigen Cléo im Pariser Vorort ist ratlos, als das Mädchen mit Magenschmerzen, Atemnot und Ausschlägen zusammenbricht, „eine Marionette, der jemand die Fäden durchgeschnitten hat, kaputt, ein kleiner Haufen loser Teile“, und was wirklich geschah, kommt nie zur Sprache, eine komplizierte Geschichte. Cléo ist wild entschlossen, Tänzerin zu werden, und die schöne Cathy lockt sie in eine geheimnisvolle Stiftung, die vorgibt, für Stipendien zu sorgen, tatsächlich aber den Missbrauch sehr junger Mädchen durch begüterte ältere Männer organisiert. Lola Lafon schildert, wie aus Cléo „eine zuverlässige Ich-AG von dreizehn Jahren, sechs Monaten und drei Tagen, umringt von flehenden Mädchen“ wird, die ihrerseits Jüngere anwirbt, immer in der Hoffnung, ihren Traum zu verwirklichen – bis sie zusammenbricht. Erst 35 Jahre später wird das Netzwerk des Missbrauchs öffentlich, als eine Dokumentarfilmerin versucht, damals beteiligte Opfer aufzufinden und ihre Geschichten erzählen will.
Von der Kraft junger Frauen
Ein hochspannender Bogen, den dieser Roman schlägt, doch vor allem Cléos Schicksal in den vielen Jahren dazwischen, und auch das eines ihrer Opfer, der damals 12jährigen Betty, verfolgt die Autorin mit genauem Blick für die Psyche und die Kraft junger Frauen. Lola Lafon, die selbst auf eine kurze Karriere als Tänzerin zurückblickt, kennt alle Facetten des Berufs genau, der wie kaum ein anderer die Körper der Menschen fordert. Und Besessenheit voraussetzt. Cléo will kein Opfer sein, sie wird Tänzerin und bringt die notwendige Kraft und Disziplin auf, immer und jederzeit, auch die Liebe muss hinten anstehen. Das gibt ihr Halt, in den Neunzigern in der renommierten Showgruppe Drucker und später als Cancan-Tänzerin in einem der großen Pariser Varietés. Auch hier trifft sie auf ausbeuterische Systeme, lernt, aber, sich zu wehren und auf sich zu achten.
„Cléo war wie diese kleinen flauschigen Entchen, die immer alles richtig machen wollten, die Fieselschweiflinge in den Donald-Duck-Heften ihres Sohns. Ein liebenswerter Fieselschweifling, der allerdings auch unerwartet, aber erfrischend schlagfertig sein konnte: Zum Beispiel als sich einmal ein Lichttechniker über ihre Muskeln beschwerte – das Seitenlicht betonte ihre starken Arme – und Cléo erwiderte, sie war schließlich keine zwölf mehr, wenn er kleine Mädchen mochte, musste er sich anderswo umsehen.“
Soziale Abgründe
Nur der Missbrauch selbst bleibt eingekapselt und verdrängt, und mit ihm die Schuldgefühle. Lola Lafon erkundet entlang der Geschichten von Cléo und ihres vermeintlichen Opfers Betty, welche Rolle die sozialen Abgründe der französischen Gesellschaft spielen, und welche rassistischen Vorurteile die Träume junger Mädchen behindern und der Verführung Vorschub leisten.
„Betty war weder Araberin noch von den Antillen oder aus Tahiti. Ihre Mutter stammte aus Belize, aber sie war im Departement Val-de-Marne geboren und verstand nichts von Rap; dafür umso mehr von Bachs ‚Chaconne‘ oder Chopin. Sie hatte es satt, immer diese Negativ-Beschreibungen anzuhören: nicht weiß. Nie weiß genug.“
Ob Cléo daran festhält, ihren Schlusspunkt unter die komplizierte Geschichte zu setzen und wie sich die späte Aufklärung des verbrecherischen Missbrauchssystems gestaltet, schwingt als Frage im Roman mit. Ebenso wie die Spannung zwischen den erotisierten und zugleich schmerzgeplagten Körpern, die Tänzerinnen und Tänzer zur Welt von Kunst und Unterhaltung beisteuern, bis man sie nicht mehr braucht. Lola Lafon denunziert diese Welt nicht, zeigt aber, was sich hinter Glitzer und Glanz verbirgt.
(Lore Kleinert)
Lola Lafon, *1972 in Nordfrankreich, aufgewachsen in Rumänien, Bulgarien und in Paris, war zunächst Tänzerin, veröffentlichte als Sängerin zahlreiche Alben und als französische Schriftstellerin mehrere Romane, lebt in Paris
Lola Lafon „Komplizinnen“
aus dem Französischen von Elsbeth Ranke
Roman, Hanser Berlin 2021, 288 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro