Lydia Tschukowskaja
Untertauchen
"Untertauchen" ist ein autobiografischer Roman, der von Terror und Unterdrückung erzählt und vom Trost der Sprache und der Natur. In der Figur der Übersetzerin Nina Sergejewna spiegelt sich auch die Geschichte der regimekritischen Autorin. Eine wunderbare Wiederentdeckung!
Ohne Briefkontakt
Während eines Aufenthaltes in einem Erholungsheim des sowjetischen Schriftstellerverbandes schreibt Nina Sergejewna Tagebuch – sie wird die traumatischen Erinnerungen an ihren Mann Aljoscha nicht los, der vor zwölf Jahren abgeholt und zu "Lagerhaft ohne Briefkontakt" verurteilt wurde. Dass dieses Urteil sofortiges Erschießen bedeutete, erfährt sie von Bilibin, einem Schriftsteller, dem sie im Sanatorium begegnet und der selbst im Lager gewesen ist, die Tortur der Arbeit im Bergwerk überlebt hat.
Ruhe in der Natur
Sergejewna ist misstrauisch, entzieht sich den oberflächlichen Gesprächen und bemühten Kontakten der Gäste, bleibt lieber für sich allein, sucht Ruhe und Frieden in der Literatur und in der Natur. Die verschneiten Wege und Wälder werden ihr tröstlicher Rückzugsort, in dem sie untertauchen kann, allein mit der Vergangenheit, mit Hoffnungen und Ängsten, mit ihren bedrückenden Träumen.
Von Bilibin erhofft sie sich Informationen über ihren Mann, über sein Leiden und sein Sterben: "Ein Bote! Und wie gelang es ihm nur - woher nahm er die Kraft -, das alles zu überleben! Ich will ihn fragen, was ihm geholfen hat, durchzuhalten".
Stalins Terror
Sie zögert anfänglich, ihm zu vertrauen, lässt dann aber doch Zuneigung und Nähe zu. Mit ihm macht sie lange Spaziergänge, führt intensive Gespräche, scheint einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, der das Regime ebenso verabscheut wie sie selbst. Aber dieses Regime dringt bis in das Sanatorium vor, es richtet eine zweite Verfolgungswelle gegen Juden, die sogenannten Kosmopoliten. Nachts wird heimlich ein Dichter abgeholt, der Sergejewna am Tag zuvor noch seine Gedichte vorgetragen hat, und die Schwester der Haushälterin wird zum zweiten Mal nach Sibirien verschleppt. Stalins Terror ist allgegenwärtig.
Berührende Bilder
Und doch ist dieses Buch leise, ungemein poetisch, sanft, getragen von einer wunderbar klaren, schnörkellosen Sprache. Die schrecklichen Ereignisse werden in Erinnerungen, Träumen und Gesprächen beschrieben, in berührenden Bildern, die traurig machen. Die Ich-Erzählerin wirkt zerbrechlich und empfindsam und ist doch so mutig und unangepasst in ihrer Meinung und Kritik. Sie liebt Dichter, die das Regime verfolgt, und das sagt sie auch. Sie hofft auf Bilibins Buch, das er im Sanatorium beendet und das dann doch ein Schock für sie ist. Weil er die bittere Realität beschönigt statt sie zu benennen, weil er sich duckt. Wohl, um zu überleben.
"Sie sind ein Feigling", sagte ich. "Nein, schlimmer: Sie sind ein falscher Zeuge … Sie sind ein Lügner."
Zeugin der Geschichte
Lydia Tschukowskaja schrieb diesen Roman bereits 1949, aber erst 1988 durfte er in der Sowjetunion erscheinen. Als er 1972 in den USA herauskam, wurde sie zwei Jahre später aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen:
"Heute werden sie mich zu dem für einen Schriftsteller höchsten Strafmaß verurteilen – zur Nichtexistenz in der Literatur …" sagt sie in ihrer Abschiedsrede und weiß doch,
"dass nur die Gegenwart und zum Teil die Vergangenheit in Ihrer Macht steht. Es gibt noch eine Instanz, die über Vergangenheit und Zukunft entscheidet: Die Literaturgeschichte."
(Christiane Schwalbe)
Lydia Tschukwowskaja, *1907 in St. Petersburg, musste mitansehen, wie ihr Mann und viele ihrer Kollegen während des Stalin-Terrors verhaftet und umgebracht wurde, 1996 in Petersburg gestorben,
Swetlana Geier, *1923 in Kiew, die "Grande Dame der russisch-deutschen Kulturvermittlung", bekannt durch Übersetzungen der großen Romane von Fjodor Dostojewskij, starb 2010 in Freiburg.
Lydia Tschukowskaja "Untertauchen"
übersetzt aus dem Russischen von Swetlana Geier
Dörlemann Verlag 2015, 256 Seiten, 18,90 Euro
eBook 14,99 Euro