Maria Dermoût
Die zehntausend Dinge
Als das Kind Felicia die Gewürzinsel der Molukken mit seinen Eltern verlässt, gibt ihm die Großmutter, eine niederländische Pflanzerswitwe, einen kostbaren Armreif mit und schärft dem Mädchen ein: "Würdest du das bitte laut nachsprechen, damit du es nicht vergisst: Meine Großmutter wartet im Kleinen Garten an der Binnenbucht auf mich."
Tropische Welt
Siebzehn Jahre später kehrt die junge Frau mit ihrem Sohn zurück, in die tropische Welt des Gewürzgartens, der überhaupt nicht klein ist, eine fremde, geheimnisvolle Welt im indonesischen Inselarchipel, in dem sich die Kolonialherrschaft der Niederländer unmerklich dem Ende zuneigt. Und schließlich ist nicht mehr die Großmutter die "Frau vom Kleinen Garten", sondern die Enkelin Felicia, die, alt geworden, einmal im Jahr einen Tag und eine Nacht den Toten widmet, jenen, die auf der paradiesischen Insel ermordet wurden.
Denkmal der Erinnerung
Maria Dermoût, die diesen Roman 1955, mit schon 67 Jahren schrieb, kannte die verwunschene Welt, in die sich ihre Figuren zauberhaft verstrickt haben, sehr genau. Sie wurde selbst auf einer javanischen Zuckerplantage geboren, wuchs im Gewürzgarten ihrer Mutter auf und lebte mit ihrem Mann auf Java, Celebes und den Molukken, bis sie 1933 in die Niederlande zurückkehrte. Hauptperson ihrer sechs lose verknüpften Geschichten, die sich erst am Ende sehr unkonventionell zum Roman zusammenfügen, ist die Insel selbst. Der Schönheit ihrer Buchten und Berge, der fremdartigen Pflanzen und Tiere und den Menschen auf der Insel und ihren vertrauten Klängen, ihren Liebesliedern und Geschichten setzt die Autorin ein Denkmal der Erinnerung.
"Und selten, sehr selten, das alte heidnische Klagelied…für einen soeben Verstorbenen. "Die hundert Dinge“, so hieß das Lied – die hundert Dinge, an die man den Toten erinnerte, die man ihn fragte, die man ihm erzählte."
Grenzen der Zeit
Die "hundert Dinge" und all die Sinneseindrücke verknüpfen sich zu einer Symphonie der Schönheit, denn Maria Dermoût mischt Fakten und Fantasie, löst die Grenzen der Zeit immer wieder auf und entlockt den Dingen ihre Geschichte in ungewöhnlich wohlklingender Sprache. Alles ist beseelt, belebt, aber nichts ist kitschig, denn der Roman verfolgt auch eine Spur von Gewalt und Tod, beginnend mit Felicias Sohn Himpies.
Er soll einmal die schönste und größte Muschelsammlung der Molukken besitzen und wird von seiner Mutter mit allen Wundern des Gartens und des Meeres vertraut gemacht. Doch als junger Soldat wird er auf einer Patrouille vom Pfeil eines Kopfjägers getroffen und stirbt. Seine Geschichte verbindet sich mit der des allzu neugierigen Professors, der auf der Suche nach Erdorchideen die Gier der Dorfbewohner unterschätzt, und mit der vom Ende eines reichen Regierungskommissars, dessen Haus niemals jemand betreten durfte.
Suche nach Trost
Ob seine schöne junge Frau und ihre drei alten Dienerinnen Anteil an seinem Ertrinken hatten, erfahren wir nicht, ebenso wenig wie die ganze Geschichte der bewunderten Köchin Constanze, die von ihrem Mann mit dem Messer ihres Geliebten erstochen wird, doch die verschiedenen Perspektiven auf diese Begebenheiten fügen sich am Ende zu einem kraftvollen Bild des Lebens auf der Insel zusammen, das seine Geheimnisse bewahrt.
Der Botaniker Georg Eberhard Rumphius, der im 17. Jahrhundert als erster die Pflanzen des Archipels klassifizierte, aber zugleich ein spekulatives Buch über die Kuriositäten schrieb, ist als Begleiter präsent, und am Ende vereinigen sich er und alle anderen Toten zu einer einzigen großen Vision der "Frau vom Kleinen Garten", die die Resonanz der Echos vergangener Verluste verspürt und Trost sucht:
"Was geschah da mit ihr, starb sie gerade, waren das ihre 'hundert Dinge'? Sie blieb ruhig auf ihrem Stuhl sitzen, es waren auch keine hundert Dinge, sondern viel mehr als hundert und nicht nur ihre Dinge, hundert mal 'hundert Dinge', nebeneinander, lose, einander berührend, hier und da ineinander übergehend – ohne jede feste Verbindung, und gleichzeitig für immer verflochten – Eine Verbundenheit, die sie nie ganz begriff. Das machte nichts, da gab es nichts zu verstehen, es wurde ihr nur für einen Augenblick zur Betrachtung über dem mondbeschienenen Wasser geschenkt.“
Reichtum des Lebens
Und da sie den Rat ihrer Großmutter längst beherzigt hat, sich für den Reichtum des Lebens mit Schönheit und Schrecken zu öffnen, versucht sie "erneut weiterzuleben". Auch die Autorin betrauerte ihren Sohn, der in einem japanischen Gefangenenlager starb. Ein außergewöhnlich reicher und schöner Blick in eine untergegangene Welt, deren Zauber Maria Dermoût nie vergaß, wohl wissend, warum sie unterging.
(Lore Kleinert)
Helena Anthonia Maria Elisabeth Dermoût-Ingerman (1888 - 1962) geboren auf Java, lebte auf Java, Celebes, den Molukken und in den Niederlanden
Maria Dermoût "Die zehntausend Dinge"
Aus dem Niederländischen von Bettina Bach
Roman, dtv 2016, 264 Seiten, 22 Euro
eBook 15,99