Marie NDiaye
Die Chefin
Roman einer Köchin
"Ich höre manchmal die Stimme der Chefin, die mir sagt: Glaubst du wirklich das Recht zu haben, all diese Dinge zu erzählen? Wenn ich es nicht getan habe, wie kommst du dann dazu?"
Wie ein Heiligenleben
Das sagt ein ehemaliger Angestellter der Chefin, der ihr Leben am liebsten "wie man ein Heiligenleben schreibt" erzählen würde, so sehr verehrt, ja liebt er sie. Ein Leben lang hofft er vergeblich auf Gefühle von ihrer Seite, die Chefin widmet allein der Kochkunst ihr Leben. Eine Art Obsession, die sie zu immer größerer Perfektion antreibt. Sie ist gerade 14 Jahre alt, da schicken ihre Eltern sie fort. Sie verlässt ein Elternhaus, in dem sie geliebt und wohlbehütet, aber in Armut lebte, wird Dienstmädchen im Haus der Clapeaus, einem wohlhabenden Ehepaar, dessen Leben sich ausschließlich ums Essen dreht. Als ihre Köchin ausfällt, beauftragen sie das junge Mädchen, sich um ihr kulinarisches Wohlbefinden zu kümmern.
"Die Clapeaus hatten eine echte Leidenschaft für Fleisch … womit sie zu verdecken hofften, das sie alles gern aßen, Cremes und Puddings, Ofengemüse, lauwarmen Ziegenkäse auf geröstetem Brot, und dass sie im Grund nichts anderes liebten als zu essen."
Ein perfektes Mahl
Das erste Mahl, das die junge Köchin für die überaus gespannten Clapeaus zubereitet, unerfahren, ohne das Handwerk je gelernt zu haben, wird perfekt zelebriert, denn
"Sie wollte etwas Spirituelles, sie wollte, dass der Essende in einen Zustand heiterer, bescheidener Kontemplation eintrat, sie wollte, dass er sich anschließend an sie wandte …, als wäre die Priesterin einer Zeremonie … Die Küche war etwas Heiliges. Wozu sonst soviel Mühe?"
Die Mühe lohnt sich, nicht nur für die Clapeaus, die ebenso begeistert von ihrer Kochkunst sind wie später die Gäste ihres Restaurants "La Bonne Heure", das sie nach einem steinigen Weg durch zwei andere Restaurantküchen mit nur 20 Jahren in Bordeaux eröffnet. Hier begegnet ihr eines Tages der junge Koch, der dem Leser ihre außergewöhnliche Geschichte erzählt.
Beispiellose Karriere
Wir erfahren von der Geburt einer Tochter, nicht aber, wer der Vater ist, wir erleben ihre Schuldgefühle dem Kind gegenüber, weil sie zu wenig Zeit hat. Sie macht als Köchin eine beispiellose Karriere, die ihre Sorge darauf richtet:
"den Produkten, die sie verarbeitete, den größtmöglichen Respekt entgegenzubringen, sie verneigte sich innerlich vor ihnen, sie huldigte ihnen, sie war ihnen dankbar und erwies ihnen Ehre, so gut sie konnte, Gemüse, Kräuter, Pflanzen, Tiere, sie schätzte nichts gering, verschwendete und missbrauchte nichts."
Und es ist ihr Purismus bei der Zubereitung der Speisen, für den sie geehrt wird - als einzige "mit einem Stern ausgezeichneten Frau ihrer Generation". Als sie ihrer inzwischen erwachsenen Tochter zu viel Handlungsspielraum lässt, treibt diese das hochgelobte Restaurant in die Pleite. Die Chefin verschwindet spurlos – und taucht eines Tages wieder auf, um von vorne anzufangen. Schließlich lüftet sich noch ein anderes Geheimnis, eine unerwartete Verkettung der Lebensläufe von Mutter, Tochter und Erzähler.
Stilistisch raffiniert
NDiaye verlangt Geduld beim Lesen, sie umkreist ihre Figur, umgibt sie mit einer geheimnisvollen Aura, nähert sich ihr an, entfernt sich wieder, lässt den Erzähler vorausschauen und zurückblicken, blendet Passagen ein, die aus dem Leben des inzwischen alt gewordenen Angestellten berichten. Das ist stilistisch raffiniert, manchmal zu gekünstelt, auch ermüdend, aber die Perspektive, mit den Augen des sie verehrenden und halb so alten Kochs ihr Leben zu erzählen, ist durchaus bestechend.
Geniale Köchin
Das Bild einer durchsetzungsfähigen und zugleich intuitiven Frau formt sich nur allmählich, wird immer neu gespiegelt, bewertet und interpretiert. Am Ende steht das Porträt einer Persönlichkeit, die sich – unnahbar, misstrauisch und nur sich selbst vertrauend - aus ärmlichen Verhältnissen zur genialen Köchin hochgearbeitet hat und "diese verwirrende und beneidenswerte Fähigkeit besaß, so zu wirken, als genüge sie sich vollkommen selbst, als genüge ihr der freundliche Umgang mit ihrem freien, willigen Körper, mit ihrem sehr großen, doch gezügelten Ehrgeiz, mit ihren bescheidenen Wünschen und ihrem wohlbeherrschten Herzen …"
(Christiane Schwalbe)
Marie NDiaye, *1967 bei Orléans/Frankreich, veröffentlichte mit 17 Jahren ihren ersten Roman, Preisträgerin des Prix Goncourt, lebt in Berlin
Marie NDiaye "Die Chefin" Roman einer Köchin
Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer
Suhrkamp 2017, 333 Seiten, 22 Euro
eBook 18.99 Euro