Sandro Veronesi
Der Kolibri
Marco Carrera hat eine glückliche Kindheit – aus einem einfachen Grund: Er bekommt das brüchige Eheleben einer Eltern nicht mit. Schwester Irene und Bruder Giacomo merken sehr wohl, dass Vater und Mutter alles andere als harmonisch miteinander leben und ihre Kinder zu täuschen versuchen.
Kein Grund zur Sorge
Vielleicht liegt es daran, dass Marco nicht spioniert, wie seine Schwester, mehr mit sich selbst und damit beschäftigt ist, dass er noch mit 14 Jahren sehr viel kleiner ist als seine Altersgenossen. Er wächst einfach nicht, und der liebevolle Spitzname, den seine Mutter ihm gibt, ändert daran wenig:
„Im Übrigen hatte sie, sobald dieses Defizit offenbar geworden war, für ihren Jungen den beruhigendsten aller Spitznamen geprägt, Kolibri, um zu betonen, das Marco mit diesem anmutigen Vögelchen neben der Kleinheit eben auch die Schönheit und die Schnelligkeit gemeinsam hatte ... kein Grund zur Sorge."
Für den Vater sehr wohl, er läßt Marcos Wachsstumsstörung schließlich mit einer Hormonbehandlung ein Ende setzen. Marco wächst innerhalb von acht Monaten fast 16 Zentimeter, auch nicht eben leicht zu verkraften, von den Spätfolgen ganz zu schweigen. Er wird ein fürsorglicher Sohn, guter Sportler, Glücksspieler, anerkannter Augenarzt, verantwortungsvoller Ehemann und Vater.
Wechselnde Erzählform
Zu den vielen rätselhaften Ereignissen in seinem Leben gehört, dass er es - Zufall oder Schicksal - stets mit Frauen zu tun hat, die ob ihrer komplizierten Psyche eine Therapie machen, angefangen bei seiner Mutter. Eines Tages besucht ihn der Psychoanalytiker seiner Frau, um ihm - verbotenerweise - mitzuteilen, dass sie ihn wegen eines anderen, von dem sie schwanger ist, verlassen wird. Marco könnte ihn wegen dieser Information anzeigen:
„Weil das, was ich tun werde, verboten ist und in meinem Beruf streng bestraft wird. Ich habe nie auch nur im Entferntesten daran gedacht, so etwas in meinem Leben zu tun, ... aber ich habe Grund zu der Annahme, dass sie sich in großer Gefahr befinden, und ich bin die einzige Person auf der Welt, die das weiß."
Die Lebensgeschichte des Marco Carrera geht nach diesem schockierenden Einstieg nun nicht etwa chronologisch weiter, also Ehedrama, Scheidung, Sorgerecht etc. Veronesi wechselt die Form, erzählt in Briefen, Emails, Dialogen und Tagebuchnotizen, macht immer wieder Zeitsprünge. In einem Brief an eine gewisse Luisa lernen wir Marcos lebenslange große Liebe kennen, die sich niemals erfüllen wird. Jahrelang hören sie nichts voneinander, beenden ihre Beziehung, um sich dann erneut und unerwartet zu schreiben. Ein ewiges Auf und Ab der Gefühle - ohnehin das bestimmende Element in Marcos Leben. Vieles in diesem weit gespannten Familenroman von 1959 bis in die gar nicht so ferne Zukunft 2030 geschieht unerwartet, oft schicksalhaft: Der Selbstmord der älteren Schwester, die ungeklärte Beziehung Marcos zu seinem Bruder, der in Amerika lebt und nichts wissen will von Familienangelegenheiten, das verlassene Haus der Eltern, die kurz hintereinander gestorben sind und dessen Erbe Marco pflichtbewusst und gewissenhaft bis hin zu detaillierten Bestandsaufnahmen verwaltet – von wertvollen Büchersammlungen bis zu Modelleisenbahnen.
Zerbrechliche kleine Welt
Seine Tochter, die erst bei der Mutter lebt, dann aber zu ihm zurückkehrt, wird neun Jahre lang sein ausschließlicher Lebensinhalt. Aber es sind auch (Schicksals)Jahre,
„in denen er Luisa verloren hatte, in denen er auf die akademische Karriere verzichtet hatte, in denen seine Eltern krank geworden und nacheinander gestorben waren, in denen er Luisa wiedergefunden, endgültig mit seinem Bruder gebrochen und Luisa erneut verloren hatte. Sie waren ein einziger großer Zeitblock gewesen, in denen er sozusagen immer unter Deck gelebt hatte, im Morgengrauen aufgestanden war, wie ein Esel gearbeitet, eingekauft, gekocht, eine Million kleiner Alltagsdinge erledigt, sich um seine Tochter, seine Mutter, seinen Vater ... gekümmert hatte. Marco hatte eine zebrechliche kleine Welt zusammengehalten ..."
Ein Kümmerer, der sich sein Leben lang verantwortlich fühlt und niemals wirklich zur Ruhe kommt, von dem auch Luisa sagt: „Du bist ein Kolibri, weil du wie die Kolibris deine ganze Energie dafür verwendest, auf der Stelle zu bleiben.” Zwischendurch gönnt er sich zusammen mit einem Freund immer mal wieder den Kick des Glücksspiels, schrammt dabei manchmal haarscharf am Abgrund entlang.
Mensch der Zukunft
Veronesi setzt Marcos unglückliches Leben zu einem vielfarbigen Mosaik zusammen, in dem große Gefühle den Ton angeben, aber auch Niederlagen, und Marcos Leidensfähigkeit wird immer wieder auf die Probe gestellt. Am Ende bleibt ihm seine Enkelin Miraijin, deren Name auf eine neue Zeit verweist. Übersetzt bedeutet er „Der Mensch der Zukunft” - so wünschte es ihre Mutter, Marcos Tochter, die tödlich verunglückte. Ein fesselnd erzählter Familienroman mit einem rührselig inszenierten, pathetischen (Lebens)Ende.
(Christiane Schwalbe)
Sandro Veronesi, *1959 in Florenz, italienischer Autor, 2020 für den Roman „Der Kolibri" mit dem Premio Strega ausgezeichnet, lebt in Rom.
Sandro Veronesi „Der Kolibri"
Roman, aus dem Italienischen übersetzt von Michael von Killisch-Horn
Paul-Zsolnay-Verlag 2021, 352 Seiten, 25 Euro
eBook 18,99 Euro