Sergej Lebedew
Die Beschützerin
„Die Zeche war eng, schwarz und feucht. Und ich sah sie breit, trocken und hell wie eine Allee.“ Noch hatte der Krieg um die Ukraine nicht begonnen, doch in der Landschaft des Donbass war er längst tief eingeschrieben. Der verschlossene Schacht 3/4 des früheren Bergwerks wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von einem deutschjüdischen Ingenieur entworfen, um den Bergleuten ein leichteres Arbeiten zu ermöglichen, doch er wurde zum Massengrab.
Erinnerungen
Nach den Erschossenen des Zarenreichs warfen die Tschekisten der Sowjetunion ihre toten Opfer hinein, danach die verhungerten Bauern der dreißiger Jahre. Als die Deutschen die Ukraine besetzt hielten, wurde der Schacht zum Massengrab für Tausende jüdischer Ermordeter deutscher Sonderkommandos. Der Ingenieur, der ihn konstruiert hatte, war einer von ihnen. Schließlich versiegelten die sowjetischen Kommandeure den Schacht.
„In der Leichtigkeit, das Übel des Mordes durch das Übel seiner Verheimlichung zu vervielfachen, liegt die Überschneidung, der Anteil der Komplizenschaft, der Punkt der Konvergenz, der Koinzidenz.“
Nach dem russischen Abschuss eines malaysischen Passagierflugzeugs 2014 stürzen Trümmer und Leichenteile auf die Erde und aktivieren die Erinnerungen: der General, der Ingenieur, der russische Freischärler Valet, der den Überfall auf die Ukraine vorbereitet und zwischen den Überresten des Flugzeugs umherwandert, „ohne Entsetzen, ohne Mitgefühl“, gefühllos und abgestumpft. Sie alle sind mit den Henkern des NKWD und den deutschen Mördern durch den verschlossenen Schacht verbunden, und Lebedjew lässt sie zur Sprache kommen, ebenso wie die junge Shanna, die ihre Mutter, die Leiterin der Wäscherei des Bergwerks besucht, als sie im Sterben liegt. Auch beim Schürfen in der Geschichte seiner eigenen Familie stieß der Autor auf Spuren der verschwiegenen Vergangenheit, und sein eigener Stiefgroßvater entpuppte sich als Lagerkommandant, was er schon in einem seiner früheren Romane verarbeitete.
“Es ist der Tod einer Epoche von Massenmorden. Der Tod der Konzentrationslager. Der Tod durch Krieg, Hungersnot, Epidemien. So starben hungernde Häftlinge, die unter die unteren Pritschen geworfen wurden. Oder diejenigen, die in den Schacht fielen, ohne dass sie die Kugel getötet hatte…Es ist der Tod all derer, die aus der Erinnerung verdrängt und ausgestoßen und anonym begraben wurden. Manchmal erscheint er Menschen anderer Generationen.“
Muster des Bösen
Hätte man den Schacht geöffnet, wäre die ganze Wahrheit zutage getreten. Der General weiß zwar, dass die Lügen nicht mehr funktionieren, doch er leugnet weiter, was geschah, und ebenso, wer das Passagierflugzeug abschoss und die vielen Toten auf dem Gewissen hat. Die junge Shanna muss die Muster des Bösen in der Geschichte des Donbass erkennen, um nicht zum Opfer zu werden. Und sie begreift, dass ihre Mutter wie viele andere Frauen auch, gegen das Böse mit ihren Mitteln kämpfte, bis sie starb. Marianna war Teil einer geheimen Schwesternschaft der unerkannten Frauen, die Leichtigkeit und Sauberkeit in die Welt brachten, ohne sich jemals erkennen zu geben. Der General kannte sie gut:
„Damals, zu Sowjetzeiten, hätte er sie zu einem Präventivgespräch vorladen und Druck auf sie ausüben können. Er hätte sie festsetzen, mit Verhören martern, sie erpressen können. Aber er hatte schon vorher gewusst, dass sie standhaft geblieben wäre, wie viele andere auch.“
Lebedew verknüpft die Erinnerungen dieser vier Menschen in großen, kunstvollen Bögen zu einem gewaltigen Panorama fortlebender Unterdrückungssysteme und Lügengespinste und verbindet sie in einem gemeinsamen, poetischen Raum. Die verschwiegenen und verdrängten Verbrechen zeugen fortwährend neue Ungeheuer, und der Autor folgt ihren unheimlichen Spuren bis in die Gegenwart des russischen Angriffskriegs.
„Wir sind der sprachlose Schrecken des europäischen Unterbewusstseins. Sein tiefster Keller, wo, wie in einer Leprastation, die unheilbare Vergangenheit eingeschlossen ist. Das, was weder benannt noch freigebetet werden kann.“
(Lore Kleinert)
Sergej Lebedew, *1981 in Moskau, russischer Journalist, lebt in Potsdam
Sergej Lebedew „Die Beschützerin“
aus dem Russischen von Franziska Zwerg
Roman, S. Fischer Verlag 2025, 256 Seiten, 26 Euro
eBook 22,99 Euro