Victoria Mas
Die Tanzenden
Das Hôpital de la Salpêtrière ist im 19. Jahrhundert in Paris die wohl bekannteste psychiatrische Anstalt für Frauen. Hierher kommen nicht etwa nur Geistesgestörte oder seelisch Kranke, sondern auch unangepasste Frauen mit dem Stempel "hysterisch".
Patriarchale Gesellschaft
Väter und Ehemänner lassen Töchter und Ehefrauen einweisen, weil sie sich in der streng patriarchalen Gesellschaft der Zeit nicht angemessen unterwürfig und sittsam verhalten haben. In der psychiatrischen Anstalt sind sie weggesperrt, dämmern vor sich hin, werden zu Versuchsobjekten, meist ruhig gestellt oder aber mittels Hypnose in öffentlichen Lehrveranstaltungen in epileptische Anfälle getrieben, neugierig beobachtet von Journalisten, Schriftstellern, Medizinern, Künstlern und Studenten.
Fragwürdige Experimente
Die 16jährige Louise ist sogar stolz darauf, dass sie im Auditorium vorgeführt wird, es bedeutet Ruhm und Anerkennung für sie, wenn der berühmte Nervenarzt Doktor Charcot sie zu Experimenten auf die Bühne holt, wo sie sich vor aller Augen windet und krümmt und um sich schlägt:
“Mittels Hypnose können wir diese Anfälle künstlich erzeugen, um deren Symptome genauer zu untersuchen und so mehr über den physiologischen Ablauf der Hysterie zu erfahren. Patientinnen wie Louise ist es zu verdanken, dass Medizin und Wissenschaft Fortschritte machen.”
Das Wohlergehen der jungen Frauen, geschweige denn ihre Heilung ist zweitrangig, wichtig ist allein das Spektakel, das die Opfer in totale seelische und körperliche Erschöpfung treibt.
Gegen Bevormundung
Es sind die unangepassten Frauen, die in der Salpêtrière landen, Frauen, die sich aufbäumen gegen Unterdrückung und Bevormundung, den gesellschaftlichen Normen und vor allem den Männern nicht gehorchen:
"Eine Mülldeponie für all jene, die die öffentliche Ordnung gefährdeten. Eine Anstalt für Frauen, deren Empfindungen nicht den Erwartungen entsprachen. Ein Gefängnis für diejenigen, die sich einer eigenen Meinung schuldig gemacht hatten."
Weil diese "verrückten" Frauen, öffentlich präsentiert, die wildesten Fantasien beflügeln und auf ihr Publikum eher erotisch denn verrückt wirken, freuen sich die Pariser auf ein besonderes alljährliches Ereignis zu "Mittfasten", drei Wochen nach dem Ende der Karnevalszeit: Es ist der "Bal des folles", auf dem "Normale" mit "Verrückten" tanzen. Die Insassen bereiten sich wochenlang auf diese Abwechslung vor, suchen Kostüme aus, schmücken und verkleiden sich, sie
"waren nicht länger Aussätzige, deren Existenz man zu verstecken suchte, sondern Vergnügungsobjekte, die man ohne Gewissensbisse ins Rampenlicht zerrte."
Beispielhafte Schicksale
Victoria Mas stellt drei Frauen beispielhaft in den Mittelpunkt ihres Debütromans: Louise, der ein junger Arzt nachstellt, der sie angeblich heiraten will, Eugénie, die es nicht nur wagte, dem Vater zu widersprechen, sondern die auch mit Verstorbenen spricht – es ist die Zeit beginnenden Spiritismus – und Geneviève, die als Oberschwester in der Salpêtrière arbeitet und den Tod ihrer jüngeren Schwester nicht verwinden kann. Sie werden zu Verbündeten in dem Versuch, sich zu befreien von den Fesseln medizinischer Einordnung durch ausschließlich männliche Ärzte in einer Institution, die als Wegbereiter von Forschung und Wissenschaft galt. Ein ordentlich recherchierter, insgesamt aber doch recht einfach konstruierter Roman, der allzu eingleisig auf den Ball und seine Folgen zusteuert. Aber als Schmöker gut zu lesen.
(Christiane Schwalbe)
Victoria Mas, *1987 nahe Paris, freie Autorin und Journalistin
Victoria Mas "Die Tanzenden"
Roman, aus dem Französischen von Julia Schoch
Piper Verlag 2020, 240 Seiten, 20 Euro
eBook 17,99 Euro, AudioCD 15,09 Euro