Anuradha Roy
Der Garten meiner Mutter
"In meiner Kindheit war ich als der Junge bekannt, dessen Mutter mit einem Engländer durchgebrannt war. Der Mann war eigentlich Deutscher, aber in einer indischen Kleinstadt galten in jenen Tagen alle weißen Ausländer im Allgemeinen als Briten."
Rückzug in Traumwelten
Was macht ein kleiner Junge, gerade mal neun Jahre alt, den seine Mutter verläßt? Er zieht sich voller Wut, Kummer und Verwirrung in Traumwelten zurück, um ihr dort wieder zu begegnen.
"Ich hörte, roch und spürte sie, obwohl es doch, nehme ich an, nichts als Tagträume waren ... Ich trieb in einer hauchdünnen, selbst konstruierten Welt dahin, die wirklicher und mir gegenwärtiger war als alles andere."
Sein Vater hat mit der Flucht seiner Frau das Gesicht verloren, und wäre der Großvater nicht Arzt, der allen Kranken uneingeschränkt hilft, hätte es die Familie noch schwerer gehabt.
"Verliere Dein Gesicht, und du verlierst deine Autorität. Verliere als Lehrer deine Autorität, und dir bleibt nichts mehr."
Myshkins Vater entzieht sich und geht auf Pilgerreise.
Das alles geschieht in Muntazir, einer kleinen Stadt im Norden Indiens. Der Name bedeutet auf Urdu, so erklärt ihm sein Großvater, "mit banger Ungeduld auf etwas warten". Was soviel heißt: Hier passiert nicht viel. Zwar spürt man den wachsenden Widerstand gegen die britische Kolonialmacht und die unruhige weltpolitische Lage, Hitler ist in Deutschland an die Macht gekommen. Aber insgesamt folgt das Leben den alten Mustern und Traditionen.
Sehnsucht nach Freiheit
Myshkins Mutter Gayatri wurde nach dem frühen Tod ihres Vaters verheiratet, ihr Mann ist Lehrer und toleranter als andere Ehemänner, weil gebildet. Aber auch Gayatri ist anders, will sich den Regeln einer patriarchalen Gesellschaft und ihrem Ehegefängnis nicht unterordnen, will malen und tanzen. Sie ergreift die Gelegenheit zur Flucht, als der Maler Walter Spies und die Tänzerin Beryl de Zoete auftauchen. Sie ist fasziniert von ihrer unabhängigen Lebensweise - ihr Mann reagiert empört:
"Wir kämpfen für die Befreiung einer ganzen Nation von fremdländischer Unterdrückung. Männer und Frauen opfern alles und schieben ihre eigenen Wünsche zur Seite. Eines Tages, wenn die Briten hinausbefördert sind, enden Jahrhunderte der Unterdrückung, und wir werden alle frei sein ... Und du? Du denkst nur an Frisuren und Liedersingen."
Sie flieht mit Walter Spies nach Bali, das sie schon einmal mit ihrem Vater besucht hat. Denn in ihrer Erinnerung ginge es dort schon damals weitaus liberaler zu als in Indien.
Die indische Malerin
Walter Spies, Musiker, Maler, Freigeist und Abenteurer, verließ Europa in den 1920er Jahren, lebte zunächst auf Java, dann auf Bali und gründete ein kulturelles Zentrum, das viele Prominente von Picasso bis Margaret Mead besuchten. Spies war homosexuell, also kein Liebhaber von Gayatri. Sie schlug sich als "indische Malerin" mehr schlecht als recht durch, vor allem, als Spies interniert wurde. Sie schreibt sehnsuchtsvolle und schuldbewußte Briefe an Myshkin und an ihre beste Freundin. Nach deren Tod bleiben sie ihm als Erbe, und der verlassene Sohn, der Landschaftsgärtner geworden ist und im Alter zurückkehrt in seine Heimatstadt, erfährt spät, welche Sehnsüchte die Mutter geleitet haben.
Prägende Traditionen
Ein ungewöhnliches Frauenschicksal in Indien und die schillernde Künstlerfigur Walter Spies haben die Autorin zu einem üppigen, farbenfrohen Roman inspiriert, in dem sie Historie und Fiktion verbindet. Atmosphärisch und lebendig lässt sie den Ich-Erzähler Myshkin zurückblicken auf eine Geschichte, die vor dem Hintergrund tiefgreifender politischer Umbrüche in Indien spielt. Ihre Charaktere sind liebevoll und einfühlsam beschrieben, sie spürt den Traditionen nach, die in Indien bis heute prägend sind, und zeichnet ein Bild indischer Kultur und Lebensweise, das auch die Kastenunterschiede und ihre Folgen nicht ausblendet. Ein spannender Roman, durchzogen von Traurigkeit und Melancholie.
(Christiane Schwalbe)
Anuradha R oy, *1967 in Kalkutta, indische Journalistin, Verlegerin und Autorin von Romanen, lebt im indischen Himalaya
Anuradha Roy "Der Garten meiner Mutter"
Roman, aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Luchterhand Literaturverlag 2020, 416 Seiten, 22 Euro
eBook 17,99 Euro