Nuruddin Farah
Im Norden der Dämmerung
Er gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Afrikas, seine zahlreichen Romane thematisieren stets das Land seiner Geburt, Somalia, das er während der Diktatur Siad Barres verlassen musste.
Als Flüchtling in Norwegen
Nuruddin Farah hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, über Somalia zu schreiben, damit sein Heimatland nicht in Vergessenheit gerät. Das gilt für seine bisherigen Bücher, der neue Roman aber spielt in Norwegen, dort lebt eine somalische Community. Und es könnte einen nicht explizit genannten Grund dafür geben, dass der Autor das Geschehen in den Norden Europas verlegt hat:
Seit März 2017 ist Hassan Ali Khayre Premierminister dieses vom Bürgerkrieg und vom Führungsanspruch diverser Clans und Warlords zerrissenen Landes Somalia, das seit dem Ende der Diktatur Siad Barres nicht zur Ruhe kommt. Khayre, gebürtiger Somali, kam als Flüchtling nach Norwegen, studierte hier und hat beide Staatsangehörigkeiten.
Selbstmordattentäter in Mogadischu
Nuruddin Farah erzählt die Geschichte des somalischen Diplomatenehepaars Gacalo und Mugdi, das gut integriert in Oslo lebt. Mugdi ist inzwischen pensioniert. Tochter Timiro lebt und arbeitet in Genf und erwartet ihr erstes Kind. Ihre Ehe ist gescheitert. Sohn Dhaqaneh war ein schwieriger und störrischer Junge, der sich sozialen Normen nicht unterwerfen wollte. Als junger Mann kehrt er nach Somalia zurück und schließt sich islamistischen Terroristen an. In Mogadischu stirbt er bei einem Selbstmordattentat. Zurück bleiben seine Frau und zwei Stiefkinder. Mutter Gacalo holt sie aus einem Flüchtlingslager unter großen finanziellen und bürokratischen Anstrengungen nach Oslo.
Waliya und Tochter Saafi sind verschleiert und rezitieren von morgens bis abends Koranverse. Sohn Naciim spielt sich mit seinen 13 Jahren als “Mann im Haus” auf, wie es in Somalia Tradition ist, und wie er es von seinem Stiefvater gelernt hat. Er
“würde mich darin bestärken, als Herr des Hauses aufzutreten, als Oberhaupt der Frauen, als Mahram ... Der Mann als Beschützer der Frauen, dessen oberste Aufgabe ist, die Familienehre auf jede nur mögliche Art zu bewahren.”
Es wird kein einfaches Leben mit der geflüchteten Familie, die sich zunächst jeder Integration entzieht und hinter somalischen Traditionen und Allah verstecken will. Das Mädchen ist traumatisiert, wurde im Flüchtlingslager vergewaltigt. Aber die moderne Gesellschaft in Norwegen und der Umgang mit Gleichaltrigen in der Schule verfehlen ihre Wirkung nicht. Die Kinder lösen sich zunehmend von ihrer Mutter, während diese Kontakt zu Islamisten in der Moschee sucht, um ihre Tochter mit dem Imam zu verkuppeln. Er wird später verhaftet, weil er Naciim nach islamischen Gesetzen gezüchtigt hat.
“Waliya folgt der somalischen oder islamischen Tradition, und gemäß der ist eine verheiratete Frau eine 'geschützte' Frau. Die Verheiratung von Saafi garantiert ihre Sicherheit.”
Gestörtes Selbstbild
Es könnte die Geschichte eines Lebens im Exil sein, die von der Beschwerlichkeit erzählt, sich im fremden Land zu integrieren, ohne die eigenen kulturellen Wurzeln zu verraten - würde der Autor nicht das Attentat des norwegischen Rechtsextremisten Anders Breivik in Oslo und Utøya als Parallele einbauen, bei dem die Tochter einer Freundin des Botschafterpaares ums Leben kommt.
“Wir haben alle erst angenommen, dass der Täter ein radikaler Islamist war ... wir haben uns gefragt, was das für Auswirkungen auf Euer Leben haben wird ... Und dann kam der Schock ... als wir nämlich erfuhren, dass ein geistesgestörter Norweger der Täter war.”
Rassismus, Hass und Extremismus wollen funktionierende Strukturen zerstören, in Europa ebenso wie in Somalia. Und Nuruddin Farah läßt in den Gesprächen seiner Protagonisten immer wieder das gestörte Selbstbild des somalischen Volkes durchscheinen, das seit Jahrhunderten geprägt ist von Clans und ihrer gewaltsamen gegenseitigen Unterdrückung:
“Wir schauen auf alle herab – auf Weiße, Schwarze, Afrikaner, Araber, Amerikaner – und erkennen keinerlei Autorität an. Einen anderen Afrikaner hier in Norwegen adoon zu nennen, das somalische Wort für Sklave, ... erniedrigt uns als menschliche Wesen.”
Farah führt vor, wie auch gut integrierte Einwanderer immer wieder mit den inneren Konflikten kämpfen müssen, die sie aus der ehemaligen in die neue Heimat mitgeschleppt haben.
Multikulturelle Gegenwart
Erzählt ist dieser Roman eher konventionell, stilistisch schlicht, manchmal etwas altklug im Ton, wie bei Naciim, aber spannend zu lesen. Es geht hier weniger um sprachliche Kunstfertigkeit als um ein politisches Plädoyer für eine multikulturelle und globale Gesellschaft, die sich gegen Fremdenhass und Ausgrenzung wehrt. Daran müssen sich alle beteiligen, egal ob Flüchtling, erwünschter Migrant, Muslim, Christ oder Jude. Damit schlägt der Autor einen großen Bogen von der Vergangenheit seines Landes in eine globale Zukunft, in der Radikalisierung als zentrales Thema verstanden und bekämpft wird.
(Christiane Schwalbe)
Nuruddin Farah, *1945 im südsomalischen Baidoa, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Afrikas, lebt in Kapstadt
Nuruddin Farah "Im Norden der Dämmerung"
aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Roman, Verlag Antje Kunstmann März 2020, 400 Seiten, 25 Euro
eBook 19,99 Euro