Fatih Çevikkollu
Kartonwand
Das Trauma der Arbeitsmigrant/innen am Beispiel meiner Familie
„Migration ist immer Stress" sagt Fatih Çevikkollu, und Stress macht auf Dauer krank, in der Regel sind es psychosomatische Leiden, der Schmerz der Seele äußert sich körperlich.
Ewige Sehnsucht
Viele Familien der sogenannten Gastarbeiter der ersten Generation sind davon betroffen, Symptome und Krankheiten begannen schleichend, ohne konkreten Grund. Denn eigentlich ging es den Familien doch gut im fremden Land. Sie fanden sichere Arbeitsplätze, verdienten gutes Geld und kamen nicht für immer.
„Wir machen das hier vorübergehend, und dann kehren wir zurück. Also: Wir arbeiten jetzt und leben später ... Aber wie und wann das geschieht, wurde nie explizit thematisiert. Es gab nur diese vage Behauptung, die zu nichts anderem taugte, als Sehnsüchte zu entwickeln ... Für die Arbeitsmigrant:innen winkt die paradiesische Heimat, wenn man vorher brav schuftet."
Unbenutzt und weggepackt
Schuften – das galt für Männer, in der Fabrik, am Fließband, Fatihs Vater fand Arbeit bei den Ford-Werken. Die Mütter blieben meist zuhause und zogen die Kinder groß. Oder arbeiteten als Näherin, wie seine Mutter, die in der Türkei Grundschullehrerein war – eine schmerzhafte berufliche Degradierung. Auch deshalb wollte man wieder zurück in die vertraute Heimat, mit allem im Gepäck, was man für einen modernen Haushalt braucht, für den kommenden Umzug verstaut in der Kartonwand:
Bei uns zu Hause wurden neue Dinge eingekauft und sofort unbenutzt weggepackt – und das über Jahre und Jahrzehnte. ... Neuer Toaster – weg damit. Kassettenrecorder – weg damit. Und so weiter ... Glänzende neue Gegenstände schwebten über unsere Köpfe hinweg, vom Kaufhaus direkt in unsere private Lagerhalle, das Schlafzimmer meiner Eltern. .. In nicht allzu langer Zeit war so in unserer Wohnung eine Kartonmauer gewachsen."
„Die baldige Rückkehr sollte sich zur Lebenslüge entwickeln." Die Mutter zieht sich innerlich zunehmend zurück, sucht Zuflucht im Glauben und geht wieder in Moscheen, flüchtet sich in Selbstgespräche, entwickelt eine Psychose. Der Vater beginnt aus innerer Wut und Frustration, seine Söhne zu prügeln. Statt Zugehörigkeitsgefühl und Respekt erfahren sie Ausgrenzung und Vorurteile, leben wie viele ArbeitsmigrantInnen meist in zu kleinen Wohnungen. Von einer gelungenen Integration kann keine Rede sein.
Kofferkinder
Zwar löst Migration keine psychischen Krankheiten aus, so erkennt Fatih im Gespräch mit einem auf die gesundheitliche Versorgung von MigrantInnen spezialisierten Psychologen, aber sie ist eine seelische Belastung, die über Jahre und Jahrzehnte wirkt.
Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt:
"Kamen sie selbstmotiviert und aus freien Stücken, oder wurden sie instrumentalisiert, um der Familie zuhause das Leben zu erleichtern? ... Diese Menschen sind zum Funktionieren verdammt, sie haben erfolgreich zu sein."
Und die Kinder, in der Regel in Deutschland geboren? Fatih Çevikkollu fühlt sich als „Kölsche Jung", ist als Schauspieler, Kabarettist und Comedien erfolgreich. Er ist hier angekommen. Aber er erinnert sich noch gut an seine Zeit als „Kofferkind" – gleich nach seiner Geburt wurde er von Oma und Opa mitgenommen in die Türkei – wozu die Kinder verpflanzen, wenn man doch sowieso bald zurückkehrt in die Heimat? Das durchaus traumatisierende Kofferkind-Schicksal teilte er mit unzähligen anderen Kindern, die in Deutschland geboren wurden und zeitweise in der Türkei lebten – bei Großeltern, Onkeln, Tanten.
„Kinder wurden hin und her geschoben, wie es halt gerade passte, wie ein Stück Gepäck. Sie lebten mit und als Koffer ...Ich sehe einen Zusammenhang zwischen der psychischen Erkrankung meiner Mutter und der damaligen Trennung, die sicherlich schmerzhaft für sie war."
Weg mit euch
Fatih Çevikkollu hat ein sehr persönliches und offenes Buch geschrieben, das einen unbekannten, in jedem Fall aber bislang unbeachteten Aspekt in Migrationsgeschichten aufgreift und nachvollziehbar macht. Am Beispiel seiner Familie und insbesondere der Krankheit seiner Mutter beschreibt er den schmerzhaften Verlust der türkischen Heimat, und wie unerfüllt und damit belastend die Hoffnungen waren, mit der sie nach Deutschland kam.
„Es gab politisch nie ein 'Ihr gehört hierhin' oder wenigstens ein 'Ihr kommt hier an', es war immer nur ein ´Ihr geht hier eh' oder 'Weg mit euch'. Sie hatten gefälligst dankbar zu sein, dass sie als 'Gastarbeiter' hier leben durften." Ein Buch, das angesichts der aktuellen Debatten um Migration einen Nerv trifft.
(Christiane Schwalbe)
Fatih Çevikkollu, *1972 in Köln, Sohn türkischer Eltern, deutscher Kabarettist, Theater-, Film- und Fernsehschauspieler und Schriftsteller
Fatih Çevikkollu „Kartonwand"
Das Trauma der Arbeitsmigrant/innen am Beispiel meiner Familie
Kiepenheuer & Witsch 2023, 208 Seiten, 18 Euro