Christiane Hoffmann
Alles, was wir nicht erinnern
Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters
Vom schlesischen Dorf Rosenthal, das heute Rózyna heißt, geht Christiane Hoffman zu Fuß 550 Kilometer Richtung Westen, wie 1945 ihr damals neunjähriger Vater zusammen mit seiner Mutter im Flüchtlingstreck.
Eisige Kälte
Als er sich später erinnert, erzählt er immer wieder die gleiche Geschichte: dass die Rote Armee bei Rosenthal bis an die Oder vorstößt, in grosser Hast gepackt werden muss, der Matrosenanzug zur Hälfte zurück bleibt, die Mutter die Pferde nicht allein einspannen kann:
„Der Matrosenanzug, die Russen, die Oder, die Pferde... (ich) wollte die Geschichte immer wieder von Dir hören, die Erzählung über den Augenblick des Aufbruchs, den Augenblick, der alles veränderte und alles bestimmte, die Urszene unserer Familiengeschichte."
Bei eisigen Temperaturen setzt sich der Treck in Bewegung, „etwa fünfzig Gespanne, drei von Ochsen gezogen, vielleicht 300 Einwohner, die Älteste fast neunzig, der Jüngste ein Neugeborenes", das Grollen der Front und den Feuerschein der Geschütze im Rücken. 40 Tage dauert die Flucht, eine biblische Zahl. 75 Jahre später macht sich die Tochter auf den Weg durch die „Albträume meiner Kindheit", in denen es immer wieder um Flucht vor dem Feind geht, um Kampfflugzeuge, denen man nicht entrinnen kann, um Schneelandschaften, Schutzlosigkeit. Die Ängste ihrer Eltern sind ihre eigenen:
„Nie habe ich von einer glücklichen Ankunft geträumt ... heute weiß man, dass Traumata weitergegeben werden, dass Flucht und Krieg über Generationen fortwirken, dass sich die Kriege unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern in uns eingeschrieben haben. Warum also nicht auch die Traumbilder?"
Denn das ist es vor allem, was Christiane Hoffmann antreibt: eine Spurensuche, die all' die schrecklichen Erfahrungen einschließt, über die Eltern und Großeltern nicht gesprochen haben, vielleicht nicht sprechen konnten, weil die Erinnerung unerträglich war.
Gespenster der Vergangenheit
Die Russen - Feind und Gefahr für den Vater. Christiane Hoffmann hat sich diesem Bild anders genähert, russische Literatur und Geschichte studiert, die russische Sprache gelernt, monatelang in der Sowjetunion und als Journalistin schließlich vier Jahre in Moskau gelebt. Ein riesiger Umweg, erzählt sie, denn:
„ ... ich ahnte vage, dass das alles mit meiner Herkunft zu tun hatte ... ich war ein ängstliches Kind, meine ganze Kindheit hatte ich Angst vor dem Krieg und den Russen. Die Russen waren der Krieg, und der Krieg waren die Russen. ... Die Angst vor dem Krieg ließ mich vor dem Einschlafen lange wachliegen."
Weil die Gespenster der Vergangenheit sie nicht in Ruhe lassen, will sie den Weg des Vaters nachvollziehen. Am 22. Januar 2020, auf den Tag genau 75 Jahre nach Beginn seiner Flucht bricht sie auf, nur mit einem Rucksack - 31 Kilometer schafft sie am ersten Tag, selten wird es mehr, der Marsch ist anstrengend und erschöpfend. Sie kämpft sich durch Regen, Sturm und Hagel, wie einst die Heimatvertriebenen. Nicht nur einmal wird sie unterwegs gefragt:
„Was wollen Sie hier?
Ich gehe den Weg meines Vaters.
Zu Fuß?
Zu Fuß.
Allein?
Allein."
Historische Wunden
Sie hat polnisch gelernt, um mit den Menschen sprechen zu können, unterhält sich mit Maria in ihrer Küche, deren Familie 1945 aus der Westukraine in ein Straßendorf kurz vor Rosenthal kam und mit einer deutschen Familie ein Jahr lang zusammenlebte; sie übernachtet in kleinen Pensionen, „so müde, dass ich kaum sprechen kann." Sie spricht mit einem Hotelbesitzer über historische Wahrheiten, historische Wunden und die Ablehnung der EU; sie besucht ein Museum mit „verbotenen Dingen", zurückgelassen von den Deutschen, und diskutiert mit Piotr, dem Konservator des Museums, über Verbrechen und Schuld; bei Gerti sitzt sie auf der Küchenbank, sie spricht noch deutsch, wie Pauli, die sich an den Flüchtlingstreck erinnert. "Es ist zugleich Reisebericht, Familiengeschichte und die Erzählung einer Vater-Tochter-Beziehung", sagt Christiane Hoffmann, und: "Ich habe die Familiengeschichte in die Gegenwart geholt..." Dabei stellt sie ihr eigenes Erleben neben das ihres Vaters, formuliert Zwiegespräche, Beobachtungen und Vermutungen als Brief an ihn und verknüpft sie mit historischen Fakten, ihren Widersprüchen und Einordnungen. Ein sehr emotionales, beeindruckendes und berührendes Buch über Krieg und Flucht, Schmerz, Trauer und Sprachlosigkeit - wunderbar erzählt und mit Blick auf die Ukraine erschreckend aktuell.
„Wir Deutschen glauben, dass uns der Geschichtskrieg nichts angeht, den sie im Osten entfesseln. Wir glauben, die Vergangenheit sei vergangen und die Geschichte Geschichte. Wir glauben, dass wir sie aufgearbeitet haben und nun fein raus sind ...Was, wenn wir uns irren, was, wenn wir nicht merken, dass nichts vorbei ist und sie gerade dabei sind, den nächsten Krieg vorzubereiten, wenn unter der Asche immer noch Glut glimmt, in die sie jetzt hineinblasen, als müsse man sich nicht fürchten vor dem Feuer?"
Das Buch war fertig geschrieben, bevor Putin die Ukraine angegriffen hat.
(Christiane Schwalbe)
Christiane Hoffmann, *1967 in Hamburg, Journalistin u.a. für FAZ und SPIEGEL, Erste Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung, lebt in Berlin. Ihr Buch war nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022.
Christiane Hoffmann "Alles, was wir nicht erinnern"
Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters
C.H. Beck, 280 Seiten, 22,95 Euro