Miroslaw Wlekly
Gareth Jones
Chronist der Hungersnot in der Ukraine 1932 – 1933
„Größe: fünf Fuß und achteinhalb Zoll, also nicht ganz 175 Zentimeter. Augen: graublau, Haare: braun. Besondere Kennzeichne: Keine. Außerdem: Er singt walisische Lieder und „es ist unmöglich, ihn nicht zu mögen“.
Leidenschaftlicher Zeitzeuge
Viele seiner Freunde und Freundinnen mochten Gareth Jones, den leidenschaftlichen Zeitzeugen, Reisenden, Beobachter und Journalisten. Als er auf eine akademische Karriere verzichtete, um beim ehemaligen Premierminister Lloyd George als Sekretär zu arbeiten, schrieb der gebürtige Waliser seiner Mutter, der er sein Interesse an Russland verdankte:
„Sag mir: Warum glaubst Du nicht an meine Zukunft? Warum möchtest Du, dass Deinem Sohn der Mut fehlt und er um des Gefühls der Sicherheit willen zu einem Langweiler wird?“
Der polnische Journalist Miroslaw Wlekly setzt dem Mut des Mannes, der keinesfalls ein Langweiler wurde, in seiner Geschichte dieses kurzen Lebens ein Denkmal. Gareth Jones wurde nicht einmal 30 Jahre alt, denn der sowjetische Geheimdienst ließ ihn 1935 auf einer Reise durch die Mongolei ermorden. Dass er als einziger Journalist über den Horror des Holodomor in der Ukraine berichtete, verzieh Stalin nicht, und Gareth Jones Name geriet für viele Jahre in Vergessenheit.
Geheime Wanderung
Obwohl er, wie damals fast alle Intellektuellen, die junge Sowjetunion zunächst bewunderte, fiel Jones bereits während einer sechswöchigen Reise im August und September 1931 auf, wie sehr sich die offizielle Propaganda von der russischen Wirklichkeit unterschied, und was man gezeigt bekam, war sorgfältig ausgewählt worden. „Um Russland zu sehen“, befand Jones, müsse man „mit der ‚harten Klasse‘ reisen und mit einem langsamen Zug fahren.“ Und Augen und Ohren offenhalten, was dem unstillbar Neugierigen nicht schwerfiel.
„Nach dem Frühstück: Besichtigung des Kolchos. Ein Alter erzählt Jones von weggenommenen Tieren und einer Hungersnot, dem Befehl zu schweigen und der Androhung, nach Sibirien deportiert zu werden. „Alle in den Dörfern weinen heute, mein Bruder“, sagt er, doch sofort fasst er Gareth am Arm und flüstert heiser: „Um Gottes Willen, sagen Sie niemandem, was ich Ihnen erzählt habe.“
Am Freitag, dem 10. März 1933, begann er auf einer weiteren, dritten Reise in die Sowjetunion seine geheime Wanderung in die Ukraine, um sich selbst ein Bild über die Gerüchte vom großen Sterben in einer der fruchtbarsten Regionen der Welt zu machen, trotz des Verbots des Kremls. Im November/Dezember 1932 schuf Stalin in voller Absicht eine noch größere Krise als die schon vorherrschende Hungersnot.
„Er befiehlt, den Lebensmittelexport zu erhöhen, Fleisch, Milchprodukte und Eier, Obst, Eingewecktes und Konserven gehen ins Ausland. Es entstehen schwarze Listen mit Bauernhöfen und Dörfern. Dorthin dürfen keine Lebensmittel und industriellen Erzeugnisse mehr geliefert werden. Auch Petroleum und Streichhölzer sind verboten, man kann also nicht kochen.“
Verbotene Recherchen
Dass daraus der Massenmord an Millionen Ukrainern wurde, ist heute längst erforscht und im Einzelnen nachgewiesen. Damals warf man Jones vor, seine Zeitungsberichte, die er sofort nach seiner Rückkehr schrieb, habe er aus Sensationsgier übertrieben, Walter Duranty von der New York Times allen voran und Louis Fischer von The Nation ebenso. Jones kritisierte die Moskaukorrespondenten, aus denen „die Zensur Meister der Euphemismen und des Unausgesprochenen gemacht hat, eine Hungersnot nennen sie höflich ‚Lebensmittelknappheit‘ und den Hungertod entschärfen sie mit der Phrase ‚Sterblichkeit durch hungerbedingte Krankheiten‘.“ Erst 1937 beschrieb Eugene Lyons, 1928-1934 Korrespondent von United Press die ganze Unehrlichkeit dieser Jahre. Er bekannte, dass es Korrespondenten verboten war, journalistische Recherchen durchzuführen und Moskau zu verlassen, und wie sich alle daran hielten und an der furchtbaren Irreführung beteiligten:
„Uns von Jones zu distanzieren, war eine höchst unangenehme Pflicht beim jahrelangen Jonglieren mit Tatsachen, um Diktaturen zu gefallen – aber wir distanzierten uns, einstimmig und mit fast identischen Formulierungen voller Mehrdeutigkeiten.“
Journalistisches Versagen
Ohne die Aktualität solchen Verhaltens explizit zu benennen, lässt sich Wleklys Buch doch wie eine Blaupause journalistischen Versagens und politischen Irrglaubens lesen, wenn mit der vermeintlich ‚richtigen Sache‘ alle noch so grausigen Mittel gerechtfertigt werden. George Orwell, der die Berichte offenbar aufmerksamer verfolgte und sich zur Parabel „Farm der Tiere“ inspirieren ließ, erinnerte an Gareth Jones‘ Geschichte, als er seinen großen Roman „1984“ schrieb. Nur wenige waren zu Lebzeiten von Jones bereit, die Menschenexperimente der sowjetischen Herrschaft zu kritisieren oder überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Wleklys kundiges Portrait eines leidenschaftlichen Journalisten endet mit dem traurigen Fazit: „Was kann man erwarten, wenn man einen Mord an vielen Millionen Menschen enthüllt? Dass man dich in der wichtigsten Zeitung der USA einen Lügner nennt? Dass man dich unter ungeklärten Umständen ermordet? Dass man dich sogar nach deinem Tod verleugnet und aus dem kollektiven Gedächtnis löscht?“
(Lore Kleinert)
Mirosław Wlekły, *1978, Reporter, polnischer Journalist und Autor von Sachbüchern und Theaterstücken, lebt in Warschau
Miroslaw Wlekly „Gareth Jones“
Chronist der Hungersnot in der Ukraine 1932 – 1933
aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel
Osburg Verlag 2022, 328 Seiten, 26 Euro