Gulbahar Haitiwaji mit Rozenn Morgat
Wie ich das chinesische Lager überlebt habe
Xinjiang liegt im Nordwesten Chinas. Das Land und seine Hauptstadt Ürümqi wären wohl kaum bekannt, lebte dort nicht die ethnische Minderheit der Uiguren, einst die Bevölkerungsmehrheit, heute die „Autonome Uigurische Region Xinjiang”.
Zunehmende Überwachung
Die alte Seidenstraße führte durch dieses Grenzland, das in den 1990er Jahren boomte. Der Grund: Erdöl.
„Xinjiang zog alle an, die reich werden wollten, Chinesen wie Ausländer. ... Im Stadtzentrum wuchsen Bürotürme oder Einkaufszentren in die Höhe und überragten die Moscheen. Die Erdölfirmen stellten Scharen von Uiguren und Han-Chinesen ein. Auf dem großen Basar fand sich eine bunte Gesellschaft zusammen. Verschleierte Frauen standen neben Frauen in Jeans und Kapuzenpulli.”
In Ürümqi lernen sich auf der Erdöluniversität Kerim und Gulbahar kennen, später arbeiteten sie als Ingenieure bei der lokalen Erdölgesellschaft in Karamay, einer Stadt, die aus dem Boden gestampft wurde.
Die Diskriminierung der Uiguren kam schleichend, mit Benachteiligungen in der Firma, später mit Polizeikontrollen, Verhören, Einschüchterungen, Drohungen und schließlich mit offenem Terror. Ihre ständige Überwachung wurde immer umfassender. 2002 verließ Kerim das Land, bekam in Frankreich Asyl. 2006 folgte ihm Gulbahar mit den zwei Töchtern.
Böse Vorahnung
Im November 2016 bekommt Gulbahar einen mysteriösen Anruf: Sie müsse nach Karamay kommen, um wichtige Dokumente für ihren Vorruhestand zu unterzeichnen. Am anderen Ende der Leitung ist angeblich ein Mitarbeiter ihrer früheren Firma. Sie fliegt zurück – trotz einer bösen Vorahnung. Und landet im Januar 2017 mit Ketten an den Füßen in einer Gefängniszelle. Andere Frauen sitzen hier zum Teil schon seit Monaten, von Kameras bewacht, gequält von grellem Neonlicht, das Tag und Nacht brennt, morgens aufgerufen zum Appell, mit Regeln, die auswendig gelernt werden müssen.
„Es ist verboten, Uigurisch zu sprechen ... Es ist verboten zu beten ... Es ist verboten, die Befehle nicht zu befolgen."
Angekettet in der Zelle
„Ich wurde bestraft, ohne zu wissen, wofür. Eines Morgens kam ein Wächter herein und schloss meine Ketten wortlos an die Bettstange ... Seitdem sitze ich an das Gestell des Eisenbettes gelehnt auf dem staubigen Boden. Für die Nacht hieve ich mich mühsam auf die Matratze.”
20 Tage lang bleibt Gulbahar angekettet, dreimal wird sie zum Verhör gerufen, widersteht noch all' den Drohungen, Demütigungen und Einschüchterungen, aber in der Zelle wird auch vom Zuchthaus gesprochen, von
„Folter, Kälte, Ratten, Hunger, Dunkelheit. ... Zum Glück sprechen die Frauen auch von den 'Schulen': ein besserer Ausgang aus der Untersuchungshaft.”
Als auch Gulbahar in eine solche „Schule” kommt, ahnt sie nicht, welche geistige Folter ihr bevorsteht. Die „Schule” ist ein riesiges Lager,
„Baijiantan .... Alles ist neu. Kein Zweifel, dieses Lager wurde erst kürzlich errichtet. Der Farbgeruch der makellosen Wände erinnert uns überall daran. ... 200 Gefangene, die ihren Familien entrissen wurden, 200 Leben, die bis auf Weiteres eingesperrt sind.”
Heimtückisches System
Schreie in der Nacht, Frauen, die verschwinden, Ohrfeigen, Prügel, erzwungene Geständnisse, Zwangssterilisation ... Gulbahar leistet innerlich Widerstand, versucht, sich durch Yoga, Gebete und einen „geheimen Garten” mit glücklichen Bildern aus der Vergangenheit Kraft zu holen. Aber sie schafft es nur bedingt, der alltäglichen Gehirnwäsche zu entgehen, den patriotischen Liedern, Glaubenssätzen, Prüfungen und öffentlichen Demütigungen durch die Lehrer, u.a. einer Uigurin: „Eine Frau unserer eigenen Volksgruppe lehrt uns, Chinesinnen zu werden.”
Was Gulbahar Haitiwaji erzählt, ist schwer auszuhalten. Ihr widerfährt Unvorstellbares, gegen die physische und psychische Brutalität ihrer Peiniger hat sie irgendwann keine Widerstandskraft mehr, fürchtet, dass auch Mutter und Schwestern in das Netz der kommunistischen Partei geraten – die jüngste haben sie bereits geholt. Aber es ist nicht nur das brutale System der Umerziehung, das fassungslos macht, es ist auch das Wissen um die absolute Hilflosigkeit: Die heimtückische Strategie macht jede Wachsamkeit zunichte, bricht irgendwann den eigenen Willen und löscht Erinnerungen aus.
Sechs Tage lang wird sie verhört, ehe man sie nach drei Jahren endlich freiläßt. Aber sie zahlt einen hohen Preis dafür: Sie muss eine Schweigevereinbarung unterschreiben und auf einem Video die politischen Aktivitäten ihrer Tochter verurteilen.
„China hat mir sogar meine Gedanken gestohlen. ... Die Partei hat ihre Opfer für immer in der Hand,"
Ein mutiges und erschütterndes Buch, das viel Aufmerksamkeit verdient.
(Christiane Schwalbe)
Gulbahar Haitiwaji, *1966 in Nordchina, emigrierte 2006 mit ihrer Familie nach Frankreich;
Rozenn Morgat, französische Figaro Journalistin hat ausführlich mit Gulbahar Haitiwaji gesprochen, woraus dieses internationale Bestseller-Buch entstanden ist.
Gulbahar Haitiwaji mit Rozenn Morgat „Wie ich das chinesische Lager überlebt habe - Der erste Bericht einer Uigurin"
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver und Claudia Steinitz
Aufbau Verlag 2022, 259 Seiten, 20 Euro
Ebook 6,99 Euro