Katja Riemann
Jeder hat. Niemand darf.
Projektreisen
Jeder hat ... Niemand darf – so beginnen fast alle 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die Schauspielerin Katja Riemann ist in entlegene Ecken der Welt gereist, dorthin, wo diese Rechte leere Worte sind, in Städte und Dörfer in Burundi, Rumänien, Burkina Faso, in Nepal, Moldawien, Senegal, Libanon und im Kongo.
Auf Augenhöhe
Es sind zehn Geschichten aus zehn Ländern, in denen Menschen hungern, keinen Strom kennen, Kleinkinder chronisch unterernährt sind, kleine Jungen als Soldaten rekrutiert werden, wie im Kongo, es noch immer Beschneidung von Mädchen gibt, wie im Senegal, sie versklavt werden wie in Nepal, verschleppt und verkauft, wie in Moldawien - weil sie
“Mädchen sind und eine Vagina haben, weil sie aus Osteuropa sind, schön und unerfahren sind und häufig aus instabilen Familien kommen ... Weil sie Jungfrauen sind und jungfräulich.”
Vor 20 Jahren begann Katja Riemann sich als Botschafterin für UNICEF zu engagieren. Sie begegnete Menschen auf Augenhöhe, begriff sie nicht als hilflose Opfer sozialer und kultureller Traditionen, sondern respektierte sie in ihrem oft harten Alltag.
Effektive Arbeit vor Ort
Katja Riemann hörte zu, ohne zu werten, reiste, um zu lernen, um Menschen und ihre Lebensumstände kennenzulernen. Dabei beschreibt sie in ihrem Buch nicht nur Fakten und Situationen, die in ihrer Härte manchmal kaum auszuhalten sind, sondern auch, wie viel Fröhlichkeit und Gemeinsamkeit sie mit den Menschen vor Ort erlebt hat, mit den Aktivisten und ihren Schützlingen, mit den Vertreter*innen der nationalen NGO's, die "im Feld", also in Krankenhäusern, Schulen oder Gesundheitsstationen die Hauptarbeit leisten, über Jahre hinweg helfen und unterstützen und die Einheimischen ebenso hartnäckig wie geduldig zu Selbsthilfe und Eigenverantwortung führen, zu Hygiene, Familienplanung und Bildung, vor allem von Mädchen und Frauen. Gerade die regional arbeitenden Initiativen sind unverzichtbar, sie sprechen die Sprache, kennen Familienstrukturen, Traditionen und soziale Normen, man vertraut ihnen. Und sie haben Erfolg.
Bildung für die Zukunft
Überall trifft die Schauspielerin engagierte Frauen – Marguerite "Maggy" Barankitse im vom Kampf zwischen Hutus und Tutsis zerrissenen Burundi; sie ist eine Tutsi, die in Europa studiert hat, deutsch spricht, und - festgebunden auf einem Stuhl – zusehen musste, wie 72 Menschen vor ihren Augen massakriert wurden. 25 Kinder hatte sie versteckt, sie überlebten:
“In diesem Moment wusste sie, was zu tun sei. Sie musste ein Haus für die Kinder bauen, damit sie gemeinsam leben würden, damit der Hass und das Töten ein Ende nähmen.”
So entstand die Idee des Maison Shalom, “in dem sie bis zum Ende des Krieges im Jahr 2003 20 000 Kindern ein Zuhause gab.” Und Liebe. Außerdem Bildung, Ausbildung, Arbeit, Gemeinschaft, eine Zukunftsperspektive. Dafür arbeitet auch Molly Melching, Amerikanerin mit deutschen Vorfahren, in ihrem Projekt Tostan. Sie lehrt im Senegal Menschenrechte, damit die Beschneidung von Mädchen und damit verbunden ein Leben voller Scham und Schmerzen endlich ein Ende hat. Dafür braucht es Geduld, denn starre Traditionen stehen gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit.
"Ihre Arbeit, ihr Lebenswerk ist über alle Maßen beeindruckend und wegweisend. Sie ist eine jener Heldinnen im Feld, deren Geschichte und deren persönlich erlebte Geschichten man nicht oft genug erzählen kann und die eigentlich weltberühmt sein müsste. In dieser Frau wird sichtbar, was ein einzelner Mensch bewegen kann."
In Rumänien besuchte Riemann Heime und Krankenhäuser, in denen noch immer kranke und vernachlässigte Kinder leben, die während der Ceau?escu-Diktatur ausgesondert und eingesperrt wurden. Sie erlebt bedrückende und berührende Momente:
“Die Kinder sind fertig mit dem Essen und laufen auf mich zu. Ein ganzer Haufen kleiner Mädchen und Jungen ... sie greifen meine Hand, sprechen zu mir hin, ziehen mich aus dem Raum, umarmen mich, lassen meine Hände, meine Arme nicht mehr los, versuchen, an mir hochzuklettern, drücken sich an mich. ... Sie haben so ein großes Bedürfnis nach Nähe, sie kennen keine Distanz”, erklärt ihr die Ärztin.
Vergewaltigung als Waffe
In der Demokratischen Republik Kongo erfährt Katja Riemann, was es bedeutet, wenn Vergewaltigung zum Kriegsinstrument wird. Sie begegnet einem Arzt, der Frauen operiert, die Massenvergewaltigungen hinter sich haben. Und sie sieht, welche Traumata diese Frauen ein Leben lang ertragen müssen. In Burkina Faso trifft sie Katrin, ehemalige Buchhändlerin aus Deutschland, die alles hinter sich ließ, um hier Waisenhäuser zu bauen und Rollstühle für Kinder, die von der Kinderlähmung gezeichnet sind, und “Mia Alma”:
“Dies ist ein Heim, eine Einrichtung für Straßenkinder, Prostituierte, ehemalige Gefängnisinsassinnen, Mädchen, die vor der Zwangsheirat wegrannten, schwangere Teenager, die alle unter 21 sind" und von ihren Eltern oder der Dorfgemeinschaft verstoßen wurden. In Südafrika trifft sie Mitglieder der Stiftung CRF, Children's Radio Foundation, gegründet von einer Amerikanerin, “um risikogefährdeten Kindern in Subsahara-Ländern sowohl eine Stimme als auch Gehör zu geben.” Das Kinderradio sendet inzwischen in fünf weiteren Ländern Afrikas, bildet jugendliche Reporter aus, die über ihre Lebensrealität berichten.
Wie kann das sein
Sie erklärt politische Hintergründe, klar und für jeden verständlich. Sie schreibt eindeutig, direkt und mit Empathie, sie empört sich, stellt immer wieder die Frage "Wie kann das sein?". Und sie redet Klartext - angesichts erschütternder Schicksale ist das manchmal nur schwer zu lesen. Aber sie nimmt uns auch mit in die lebendige Welt afrikanischer Dörfer, zu fröhlichen und optimistischen Begegnungen mit "senegalesischen Frauen in bunten Kleidern mit passenden Tüchern auf dem Kopf. Große stattliche Frauen, denen das Lachen leicht sitzt. Um sie herum laufen Kinder. Viele Kinder." Sie tanzen und lachen zu den Rythmen der trommelnden Männer ... "Mama Afrika!"
Am Schluß steht der bewegende Brief "demobilisierter" Kindersoldaten - "Brief der Kinder" an UNICEF:
"Unsere Familien und Dörfer sind wegen der Konflikte der Erwachsenen geplündert worden. Für unsere Resozialisierung hoffen wir, dass wir einen Luftballon statt einer Granate, einen Kugelschreiber statt eines Gewehrs erhalten und jeden Tag Freudenschreie statt Explosionen und Gewehrfeuer hören werden....Wir bitten Sie, bei all Ihren Bemühungen, Menschen zu sensibilisieren, niemals das Schicksal der Kinder des Kongos zu vergessen, denen der Krieg die Lebensfreude geraubt hat:
Die Kindersoldaten, die Straßenkinder, die missbrauchten Mädchen, die AIDS-Waisen, die verlassenen und unbegleiteten Kinder, die der Hexerei besachuldigten Kinder, die Kinder auf der Flucht, die Waisen des Krieges ..."
Ein großartiges Buch, persönlich und politisch, berührend und erschütternd, dem man viele Leser*innen wünscht – für die Menschen, "die ein Leben leben, das man sich, selbst wenn man es bezeugt hat, letztlich nicht vorzustellen vermag."
(Christiane Schwalbe)
Katja Riemann, *1963 in Kirchweyhe/Niedersachsen, eine der bekanntesten deutschen Schauspielerinnen, seit 2022 UNICEF-Botschafterin, unterstützt aber schon länger »Plan International« und »amnesty international« und setzt sich für eine offene Gesellschaft und Menschenrechte ein, besonders für die von Mädchen und Frauen; für ihr Engagement erhielt sie 2010 das Bundesverdienstkreuz am Band, sie lebt in Berlin.
Katja Riemann "Jeder hat. Niemand darf."
Projektreisen
Mit einem Nachwort von Harald Welzer
S. Fischer Verlag 2020, 400 Seiten, 24 Euro, eBook 19,99 Euro