Sven Kuntze
Alt sein wie ein Gentleman
Über Würde im Alter und andere überschätzte Tugenden
"Warum soll man sich mit einem Ereignis auseinandersetzen, das einmalig bleibt, dessen Ausgang sich nicht beeinflussen lässt und das für die Betroffenen keinerlei Folgen mehr hat, wenn es vorüber ist?"
Gesellschaft vom Dachboden
Gute Frage – Sven Kuntze will dem Alter, der letzten Lebensphase, weder einen praktischen Ratgeber als Schild entgegenhalten noch mit dem Schwert der kritischen Selbstzerfleischung begegnen. Der Ritter von der traurigen Gestalt mit seinem sinnlosen Kampf gegen Windmühlen wäre ihm nicht der passende Begleiter, - vielmehr berät er sich im Schreiben mit der "Gesellschaft vom Dachboden", benannt nach einem Nachkriegsroman von Ernst Kreuder, einem Bund alter Freunde und Weggefährtinnen, in dem sich ein "Mosaik unterschiedlichster Erfahrungen, Eindrücke und Begegnungen" zusammenfindet.
Frei und grenzenlos
Nicht gerade auf einem Dachboden, sondern, selbstironisch angemerkt, im Ambiente sorgfältig ausgesuchter Möbel und Objekte und mit erlesenen Getränken, und mit der Bereitschaft zur ernsthaften Begutachtung des Lebens und zum spielerischen Umherschweifen im Gelebten:
"Herrlich, wie ein mit bedeutungslosem Müll bis zum Rand vollgestopftes Gehirn in einer Welt voller Zwänge frei und grenzenlos umherschweifen kann, während sich mit jedem neuerlichen Erinnerungspartikel ein erlesener Entdeckerstolz einstellt – das Heureka der alten Leutchen."
So heiter und leichtfüßig Sven Kuntze Erinnerungen aufruft, als wichtige Fundstücke und "Teil unserer geistigen und emotionalen Wegzehrung auf der letzten Strecke Wegs", so wenig geht er dabei der Melancholie angesichts schwindender Kraft und großer Verluste aus dem Weg. Wenn die Vielfalt des Lebens im Alter geringer wird, wächst die Zahl der Wiederholungen; Psychologen haben herausgefunden, dass man bei der dritten Wiederholung einer Anekdote aggressiv reagiert, doch Kuntze weiß, wie gern gerade Männer in ihren häufig gut einstudierten Geschichten routiniert auf ihre alten Heldentaten zurückkommen.
Niederlagen entsorgen
Gelassen plädiert er für bewusste Vergesslichkeit als kluge Möglichkeit, die Fehlentscheidungen oder Niederlagen zu entsorgen und die Wunden aus der Vergangenheit zu heilen. Auch weiß man, dass Geist und Körper eine Weile getrennte Wege gehen, der Mensch sich erheblich jünger fühlt, während sein Körper ihn peu à peu verrät.
"Der Verzicht ist eines der größten Geheimnisse des Alterns. Wer seine Unausweichlichkeit nicht verstanden und seinem Alltag beigefügt hat, wird an den Verlusten verzweifeln und beunruhigt und ängstlich auf den nächsten Augenblick und seine Zumutungen, die er ohnehin nicht verhindern kann, warten."
Auch bei der täglichen Suche nach Brille, Handy und Kugelschreiber könne im Laufe des Tages ein tüchtiger Fußmarsch zusammenkommen, und den angebotenen Platz in der Straßenbahn, den man früher empört zurückwies, nimmt man irgendwann erleichtert an. Sven Kuntze verbindet seine kleinen Beobachtungen elegant mit den großen Fragen nach dem Sinn zum Beispiel der Sammelleidenschaft oder der Erlebnisakkumulation nach dem Renteneintritt, die einem gemächlich schlendernden, gewitzten und illusionslosen letzten Gang im Wege stehen könnten. "Es gibt keine Melodie des Todes", schreibt er, "die wir pfeifen können", und auch das eigene Selbst hat mit dem Tod gemeinsam, dass man es nicht begreifen könne, zumal das Glück den hohen Preis der Flüchtigkeit hat.
Unerwartete Freuden
Ein Vorzug des Alters sei jedenfalls, die Jagd nach dem Glück abzublasen, denn das setze Energien frei: für Entspannung, unerwartete Freuden, Neugierde, Fragen. Nachdem lange alles "kritisch hinterfragt" worden und das Leben trotzdem weiter gegangen war, lässt sich das Talent zur Frage wieder entdecken, und der Hinweis auf die Ähnlichkeit von Alter und Kindheit hat einen tieferen Sinn und stellt eine Brücke her, zu den Jüngeren und Jungen, denen man nicht Desinteresse an alten Menschen unterstellen sollte.
"Wer an der Gegenwart teilnehmen will, wird um Fragen nicht umhin kommen. Sie sind das Handgeld im Umgang miteinander. Wer darüber verfügt, lebt leichter und klarsichtiger."
Sven Kuntzes geistreiche Erkundung des Lebens im Alter öffnet einen weiten, unverhofft vielfältigen und mit Charme, Höflichkeit und Selbstironie ausgepolsterten Raum, der dennoch kein Schonraum ist, sondern eine Herausforderung. Durchaus auch für Jüngere.
(Lore Kleinert)
Sven Kuntze, *1942 in Straßburg, deutscher Journalist, TV-Reporter für den WDR aus Bonn, New York und Washington, moderierte ab 1993 das ARD Morgenmagazin, nach dem Regierungsumzug Hauptstadtkorrespondent in Berlin, lebt in Berlin im Ruhestand
Sven Kuntze "Alt sein wie ein Gentleman"
Über Würde im Alter und andere überschätzte Tugenden
C. Bertelsmann 2019, 288 Seiten, 20 Euro
eBook 19,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Sven Kuntze
"Die schamlose Generation" - Wie wir die Zukunft unserer Kinder und Enkel ruinieren