Jens Balzer
Das entfesselte Jahrzehnt
Sound und Geist der 70er
Ein weltweit beachtetes Großereignis versetzt Ende der 1960er Jahre die Menschen in Aufregung: Der Griff zu den Sternen gelingt, der Mann im Mond wird Wahrheit und die Menschheit hofft auf die weitere Eroberung des Weltalls.
Ein anderes Leben leben
Ein anderes Großereignis wird zum Mythos: Woodstock – der Summer of Love zwei Jahre zuvor mündet in die Hoffnung auf Peace und Happiness. Es ist nicht weniger als die Idee von einem anderen, freieren Leben, für das Woodstock Symbol wurde, obwohl es im Chaos von Regen, Schlamm und Dreck versunken ist. Es setzte den Endpunkt der Hippiebewegung, aber es bleibt eine Grundüberzeugung: Frieden ist möglich, wenn man nur anders lebt und denkt, es gilt, den Strukturen des Bildungsbürgertums zu entfliehen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Popmusik, aber Jens Balzer beleuchtet weitaus mehr als die Musikszene, in der u.a. David Bowie mit Ziggy Stardust eine Art exzentrischer Leitfigur kreiert.
Pazifistischer Softie
Auch Alice Schwarzer wird eine Leitfigur. 1977 gründet sie ihre Zeitschrift "Emma", Sprachrohr der Neuen Frauenbewegung. Sogar Frisuren sind Thema - Bowies Vokuhi (vorne kurz und hinten lang), Paul Breitners Afro und Günter Netzers "Fußballermatte". Der "Schulmädchenreport" liefert ebenso spießige wie Empörung stiftende Aufklärung, und die Hefte von Perry Rhodan sind Sammlerobjekte.
"Jede Woche erscheint ein neues Heft mit den Abenteuern des Astronauten, der die Menschheit in die unendlichen Weiten des Weltalls führt. In den Siebzigern wandelt er sich zum pazifistischen Softie."
Es ist ein farbenfrohes Jahrzehnt, "Alles so schön bunt hier" singt Nina Hagen und auf den Kühlschränken in deutschen Küchen kleben bunte Prilblumen. Auch das Fernsehen verändert sich nahezu revolutionär:
"Die massenweise Verbreitung des Farbfernsehens ist zweifellos das zentrale mediale Ereignis der siebziger Jahre … etwa ab Mitte der siebziger Jahre werden in Deutschland alle neuen Fernsehsendungen in Farbe produziert."
Von Ekel Alfred bis zur Rappelkiste
Ekel Alfred, Spießer par excellence, bestimmt Fernsehabende und verurteilt Pizza als zu exotisch. McDonalds vermutlich auch. Die erste Filiale in Deutschland eröffnet 1971 in München. Neben Burger und Fischstäbchen stehen die Anfänge von Ökokultur und Bioläden. Der erste eröffnet in Berlin-Schöneberg, "Peace Food". Man lebt in WG's, möbliert mit Fundstücken vom Sperrmüll und erzieht seine Kinder antiautoritär:
"In den "Kinderläden" sollen die Kinder schon vor dem Schulbesuch zu freien Menschen erzogen werden, die sich jeglicher Autorität widersetzen und auf diese Weise ihre 'ganze Persönlichkeit' entfalten können."
Elvis Presley und Wackeldackel, Sesamstraße und Rappelkiste, Punk Rock und "Star Wars" – das entfesselte Jahrzehnt ist verspielt, frauenbewegt, sexuell befreit, umweltbewusst und esoterisch.
Lebensstil auf Kosten anderer
Die Thesen des Club of Rome 1972 sind bis heute gültig:
"Der Lebensstil der westlichen Industrienationen gründet in Voraussetzungen, die sie selber nicht schaffen können, und das heißt, dass dieser Lebensstil keineswegs bis in alle Ewigkeit garantiert ist".
Von Ton, Steine Scherben und "Macht kaputt, was euch kaputt macht" bis zu Stadtguerilla, Rote Armee Fraktion, Demonstrationen gegen das Atomkraftwerk Brokdorf und die daraus resultierende Anti-AKW-Bewegung erzählt Balzer mit überbordendem Detailreichtum eine Fülle von Geschichten. Er spiegelt gesellschaftliche Entwicklungen in der Popkultur und umgekehrt, analysiert sie in ihrer politischen Bedeutung für kommende Zeiten. Ein spannendes Buch und ein wegweisendes Jahrzehnt.
"Die Popkultur … ist schon immer eine Neuerfindung von Identitäten und Gemeinschaften gewesen … In den Siebzigern verwandeln sich diese Arten des Spiels in politische Praktiken. 'Das Private ist politisch, und das Politische ist privat' lautete ein gern zitierter Slogan nicht nur der frühen Frauenbewegung; Pop ist das Medium, in dem sich diese Verschränkung vollzieht."
(Christiane Schwalbe)
Jens Balzer, *1969, ist Autor und Kolumnist, war Kurator an der Voksbühne in Berlin, lebt in Berlin
Jens Balzer "Das entfesselte Jahrzehnt"
Sound und Geist der 70er
Rowohlt Verlag 2019, 432 Seiten, 26 Euro
eBook 19,99 Euro