Sophy Roberts
Sibiriens vergessene Klaviere
Auf der Suche nach der Geschichte, die sie erzählen
"Vor meinem inneren Auge begann Sibirien in den Bruchlinien und Falten einer Landschaft voller Risiken und Chancen vor Möglichkeiten zu lodern…Ich war fasziniert davon, wie wundervoll es wäre, in einem Land wie diesem eines der vergessenen Klaviere Sibiriens aufzutreiben. Was, wenn ich in einer Hütte tief im Wald einen Bechstein finden würde?"
Russlands Kulturgeschichte
Die Reisejournalistin Sophy Roberts lässt sich mit Dolmetscherin und Fotografen auf eine jahrelange, obsessive Suche nach einem passenden Klavier für ihre mongolische Freundin Odgerel Sampilnorow, eine begabte Pianistin mit sibirischen Wurzeln, ein, eine Reise durch Städte und entlegene Winkel eines riesigen Gebiets, das sich über drei Viertel der russischen Landmasse erstreckt. Während sie zwischen dem Ural im Westen und der Halbinsel Kamtschatka in Russlands fernem Osten mäandert, oft von Zufällen geleitet, erschließt sich Russlands Kulturgeschichte und Sibiriens besondere Rolle auf einzigartige Weise. Sibirien ist für sie
"ein Gefühl, das haften bleibt wie eine Klette, eine Temperatur, das Geräusch schläfriger Flocken, die auf schneeige Kissen sinken, und das Knirschen von hinten kommender unregelmäßiger Schritte."
Mit Begeisterung und schöner, poetischer Sprache zeichnet sie den Weg der erstaunlich vielen Klaviere nach, die Begegnungen mit den Menschen, die sie in Ehren halten und bewahren, die Geschichten, die mit den Instrumenten verbunden sind, auch wenn sie verloren gingen.
Lust auf Klavierspiel
Nach dem polnischen Aufstand 1863 verbannte Russland über 4000 Mitglieder der gebildeten Oberschicht in die sibirische Einöde – während die Russen Warschau plünderten und Chopins Klavier, wie in einer berühmten Szene geschildert, auf dem Stadtplatz auf einen Scheiterhaufen warfen, wuchs mit den Verbannten und ihren Ehefrauen in den wachsenden sibirischen Städten und Kolonien die Lust auf Musik, Kultur, Klavierspiel. Franz Liszts Konzerte ähnelten den triumphalen Touren heutiger Rockstars, und der Ruhm russischer Komponisten wie Tschaikowsky, Rachmaninow oder Schostakowitsch strahlte aus in die Welt. Als im Zuge der Revolution der Dramatiker Anatoli Lunartscharski von Lenin zum Kommissar für Volksaufklärung ernannt wurde, musste er vor allem die Abwanderung der Instrumente aus Russland eindämmen: Sie wurden verstaatlicht und in Staatsbesitz überführt, wie die Fabriken, die oft von deutschen Instrumentenbauern im Zarenreich gegründet worden waren - und die Instrumente blieben Statussymbole, gepflegt und geliebt.
In sechster Generation
Das kostbare 'piano anglais' von Zumpe aus dem Jahr 1774, das Katharina der Großen gehört hatte, wurde vor der deutschen Belagerung von Leningrad mit mehr als 700 kostbaren Objekten aus der Eremitage nach Tomsk und dann Nowosibirsk evakuiert, ebenso wie das Leningrader Philharmonische Orchester - in den nächsten drei Jahren gaben seine Musiker hier mehr als fünfhundert Konzerte, unter anderem Schostakowitschs 'Leningrader Symphonie' im Juli 1942. Im Opernhaus trifft Roberts Chefklavierstimmer Igor. "Er sprach darüber, dass jedes Klavier seine ganz eigene Stimme habe: satt, lieblich, schneidend, gläsern, warm, dünn oder kühl", und diesen Stimmen widmet er sein ganzes Leben, und sein Sohn wird diese Tradition fortsetzen. Hier stößt Sophy Roberts auf einen Grotrian-Steinweg mit Elfenbeintasten – der 1803 geborene Friedrich Grotrian lernte sein Handwerk in Moskau, als er zur Blütezeit des Klavierbooms dort lebte. 1885 kehrte er nach Deutschland zurück, leitete die Klavierfabrik Grotrian-Steinweg in Braunschweig, die es in sechster Generation noch immer gibt.
In Kellern und Hinterzimmern
Roberts fand die Klaviere, die auf abenteuerlichen Wegen auch mit Pferdeschlitten nach Sibirien gebracht wurden, in Kellern, Hinterzimmern, Wohnungen alter Damen, und mit Akribie und Leidenschaft folgt sie ihnen in die Herzkammern russischer Geschichte. Olga Leonidowa zum Beispiel besitzt einen Bechstein von 1896. Während des Krieges wurde er von zwei Frauen mit dem Zug aus Leningrad mitgebracht und für einen Sack Kartoffeln an Einheimische verkauft.
"45 Jahre lang hatte der Bechstein das sibirische Dorf unterhalten, wo Olgas Vater das Landwirtschaftskollektiv geleitet hatte. Es trug die Opfer von Freunden in sich. Es repräsentierte die Gemeinschaftsethik der sowjetischen Gesellschaft in ihrem besten Licht. Aus diesem Grund war sie froh, dass ich die Geschichte des Instruments schrieb - des besten Klaviers in Sibirien, behauptete sie und küsste es noch einmal."
Erinnerung und Unterdrückung
Sie setzt den Menschen, die ihr nicht nur ihre Instrumente, sondern auch ihre Herzen öffneten, ein warmherziges Denkmal, und damit auch der Kraft der Musik, die bis in die entlegensten Winkel der Welt reicht. Sibiriens Rolle als Strafkolonie, nicht nur als Gulag der Sowjets, sondern von Generationen von Zaren zur Verbannung politischer Gegner genutzt, ist in Sophy Roberts großer, sachkundiger Erzählung gleichwohl stets präsent. Sogar im Herzen sowjetischer Finsternis, dem Gulag von Kolyma, spürt sie einige vergessene Klaviere auf, traurige Instrumente zur Unterhaltung der Gefängniswärter:
"Ich war mit Erinnerung und Unterdrückung konfrontiert und der Einsicht, dass, auch wenn mein Wunsch noch so stark war, meine Klaviersuche möge alles hervorheben, was an Sibirien großartig war, doch vieles von dem, wonach ich suchte, mit einer erschreckenden Vergangenheit verbunden war."
Am Ende der Reise schließt sich der Kreis, und Odgerel Sampilnorow gibt in den Sommermonaten Solokonzerte im Orchon-Tal, auf dem einzigen Klavier seiner Art in der Mongolei. Auf welchem der Klaviere, denen die Autorin auf ihrer verschlungenen Recherche begegnet ist, soll hier nicht verraten werden, denn das ist eine weitere wunderbare Geschichte in dieser reichen literarischen Spurensuche, zugleich Sachbuch, Reportage und Liebeserklärung.
(Lore Kleinert)
Sophy Roberts, englische Journalistin, lebt in West Dorset/GB
Sophy Roberts "Sibiriens vergessene Klaviere"
Auf der Suche nach der Geschichte, die sie erzählen
aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Hilzensauer
Roman, Paul Zsolnay Verlag 2020, 398 Seiten 26 Euro
eBook 19,99 Euro