Marina Naprushkina
Neue Heimat?
Wie Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen
Sie kommen zu Hunderttausenden und suchen eine neue Heimat in Deutschland, wo sie in Frieden leben und arbeiten wollen. Aber so einfach ist das nicht. Die Bilder vom Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales sprechen ihre eigene Sprache – und die ist knallhart und alles andere als menschlich.
Starke Frauen
Marina Naprushkina ist vor zwölf Jahren aus Weißrussland nach Deutschland gekommen. 2013 gründete sie eine Nachbarschaftsinitiative, um Flüchtlingen dabei zu helfen, den Alltag in einer gänzlich fremden Umgebung zu bewältigen. Frauen – das wird in ihren kühlen, sachlichen und eindrucksvollen Notizen und Reportagen schnell klar – finden sich besser zurecht, sind aktiver und zäher als ihre Männer, die hilflos herumsitzen, krank oder depressiv werden, die Organisation ihres Lebens den Frauen überlassen und oft in Drogen abdriften.
"Deutschland versorgt sie, das stimmt. Aber sie haben keine Arbeit, keinen Sprachkurs. Was sollen sie denn den ganzen Tag tun?"
Kein Platz
Die Flüchtlinge kommen von überall her, sie sind häufig traumatisiert, sprechen kein Deutsch, kennen die behördlichen Abläufe nicht, leben in Notunterkünften und warten - auf Abschiebung oder auf Anerkennung, auf Papiere, Plätze in Schulen oder Kitas, Termine beim Arzt oder Rechtsanwalt. Antwort in einer Kita:
'Noch ein Flüchtlingskind? Das geht nun leider überhaupt nicht mehr, wir bekommen sonst die deutschen Kinder nicht mehr versorgt ..."
Immer nur warten
Es sind Frauen, die aus Tschetschenien oder vom Balkan kommen und viele Kinder haben; oder schwanger sind und zur Geburt ins Krankenhaus müssen; die nicht daran gewöhnt sind, von fremden Männern behandelt – und betrachtet – zu werden; die Angst haben. Marina Naprushkina schildert ihre Arbeit nüchtern und eindringlich, sie beschreibt Willkür, Desinteresse und Chaos in den Behörden, aber auch die grenzenlose Naivität der Flüchtlinge, die hier buchstäblich stranden – ohne jede Kenntnis von Land und Leuten oder gar Verwaltungsabläufen.
"Was soll ich machen? Man muss immer warten. Warten, warten und alles erdulden. Das geht immer so weiter", sagt Tamara und seufzt.
Politische Arbeit
Es ist eine anstrengende, Zeit und Nerven raubende Hilfe, auf die sich die Autorin und viele Freiwillige eingelassen haben, die übersetzen und beraten, Konflikte klären, oft mitten in der Nacht angerufen werden oder zu Zeiten, da sie sich um die eigene Familie kümmern müssen. Naprushkinas Hilfsprojekt leistet zugleich wichtige politische Arbeit, die die kriminellen Machenschaften privater Heimbetreiber aufdeckt und die katastrophalen Zustände in ihren Unterkünften anprangert.
"Wir reiben uns im täglichen Spagat zwischen Politik und praktischer Arbeit auf. Jeden Tag neue Journalisten bei uns, auch Abgeordnete der Opposition kontaktieren uns, um an Informationen zu kommen. Aber eigentlich müssen wir für die Menschen da sein, die zu uns täglich kommen, ihre Probleme lösen."
Willkommenskultur
Es sind viele kleine Geschichten, Erlebnisse und Episoden, die erschreckend deutlich machen, dass die viel beschworene Willkommenskultur selten in die Tiefe geht und oft vor Behördentüren endet. Ein wichtiges und zugleich bedrückendes Buch.
(Christiane Schwalbe)
Marina Naprushkina *1981 in Minsk/Weißrussland, Künstlerin und Aktivistin, lebt in Berlin
Marina Naprushkina "Neue Heimat?"
Wie Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen
Europaverlag Berlin, 240 Seiten, 16.99 Euro
eBook 13,99 Euro