Olaf Deininger/Henrik Haase
Food Code
Wie wir in der digitalen Welt die Kontrolle über unser Essen behalten
Auf Instagram wird so ziemlich alles gepostet, was privat ist – Kinder, Selfies, Haustiere, die beste Freundin, die frisch gestylten Haare, die neuen Lippen und - Essen, und zwar in jeder Form und Zubereitung. Fotografiert mit dem Smartphone im „Food Mode”.
Digitaler Konsum
„Was früher Profifotografen vorbehalten war, die oft Stunden damit verbrachten, die Speisen in das richtige Licht zu setzen und sie nicht selten lackierten, damit sie appetitlich wirkten, ist zum Massenphänomen geworden. ... Die digitale Kamera gehört zum Besteck.”
Und wie so vieles in den Social Media Kanälen, werden diese Gerichte zum Vorbild für junge Foodies und solche, die es werden wollen. Was jahrhundertelang vorwiegend von der Oma an die Mutter und von der Mutter an die Tochter weitergegeben wurde, schlucken und verdauen inzwischen Instagram & Co. Das wäre vielleicht noch zu ertragen, aber bei der digitalen Fotoshow bleibt es nicht. Immer mehr Geräte wie
„Magensensoren, das Fitnessarmband, der Sensor am Lebensmittel, die Allergie-App, KI-Emotionssensoren liefern ihre Daten, um das perfekte Gericht für den Kunden zum genau richtigen Zeitpunkt zu berechnen.”
Datenzentrum Küche
Denken wir eigentlich noch darüber nach, welche Unmenge von Daten wir da preisgeben und überlegen wir, wie sie gebündelt, ausgewertet und in perfekte Profile für buchstäblich jeden Geschmack umgewandelt werden? Wohl eher selten.
„Künstliche Kulinarische Intelligenz läßt die online verfügbaren Rezeptdatenbanken 'smart' werden. Das bedeutet: Nun sind sie personalisierbar, individualisierbar und 'intelligent'.
Mit Kochen per Touchscreen lassen sich Menschen alles aus der Hand nehmen, was Spaß macht, was Kreativität, Koordinierung und Geschmack bedeutet, Teil unserer Kultur ist und Face-to-face-Begegnungen schafft, Gespräche, Nähe und Gefühl. Digitale Datensätze werden weiterentwickelt, genauso wie denkende Kühlschränke, Backöfen, Mikrowellen oder Thermomix-Automaten. Eigentlich muss der Mensch vorgegebene Programme nur noch übertragen und - natürlich durch Alexa oder Siri - in Gang setzen. Denn die neuen elektronischen Geräte sind vernetzt, die Küche wird zum Datenzentrum und gekocht wird von Künstlicher Intelligenz. Auch Smart Kitchen und Roboterküchen gibt es längst.
Neue Ohren und Nasen
Unzähliche Start Ups tüfteln und experimentieren mit bereits vorhandenen Daten s.o.), über die wir längst die Kontrolle verloren haben, bündeln sie und werten sie aus. Das ist – auf eine kurze Formel gebracht – die schöne (?) neue Koch- und Küchenwelt. In Asien gibt es bereits Wohnungen ganz ohne Küchen: kann doch alles geliefert werden, perfekt zusammengestellt, auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten. Um Kochen und Essen als soziale Handlungen geht es da schon lange nicht mehr.
„Die Lebensmittelindustrie hat neue Ohren und Nasen mit künstlicher Intelligenz bekommen. Sie beschleunigen die Automatisierung am Fließband und machen menschliche Tester und Kontrolleure zunehmend überflüssig. Die Produktentwicklung wird dank digitaler Technologie in praktisch allen Bereichen revolutioniert. ... Es ist eine Weiterentwicklung der Prozesse zur Industrialisierung unserer Lebensmittel.”
Aber der KI-gesteuerte Lebensmittelkonsum, inklusive Einkauf und Rezept-Apps, ist erst der Anfang in diesem glänzend recherchierten Buch. Beim Blick der beiden Autoren auf Früchte pflückende Roboter, Fitness-Halsband für die Kuh, Wochenmarkt (!) auf dem Smartphone, schmeckende Maschinen, Food Trucks in der Cloud und Ghost Kitchens, ihre Fakten über Virtual Reality im Einkaufswagen, Steaks aus dem 3-D-Drucker und Big Brother, der Welternährung per App verschreibt und Lieferketten perfektioniert, kann einem Angst und Bange werden. Aber Deininger/Haase listen auch positive Möglichkeiten auf, die für mehr Nachhaltigkeit und weniger Lebensmittelverschwendung sorgen (können).
Chancen und Gefahren
Natürlich gibt es in diesem Spiel Gewinner und Verlierer, positive und negative Seiten, sogar wirklich bessere oder doch zumindest besser gekennzeichnete Lebensmittel. Die digitale Durchdringung unserer Lebensbereiche birgt aber auch große Gefahren, wie die Autoren im Interview bekennen:
„Neu ist auch, dass es nicht mehr nur um einzelne Geräte geht, sondern um völlige Vernetzung. Damit gibt die gesamte Lieferkette, vom Acker bis zum Teller, relevante Daten ab, die ständig um uns herum verarbeitet werden. Daten, die sich wie Mehltau über alles legen. Unser Verhalten in der eigenen Küche prägt die Algorithmen mit, die dadurch Stück für Stück die Gesellschaft verändern.”
Die Fakten über bereits vollzogene digitale Entwicklungen sind zum Teil erschreckend, die Autoren stellen aber auch Chancen und Risiken nebeneinander, die mit der rasanten Digitalisierung unserer Lebensbereiche verbunden sind. Das Buch mahnt zu Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. Sonst übernimmt Künstliche Intelligenz bald nicht nur das Kochen.
(Christiane Schwalbe)
Olaf Deininger, *1963, Wirtschaftsjournalist, Digitalexperte, lebt am Bodensee
Hendrik Haase, *1984, Publizist, Kommunikationsdesigner, Berater und bekannter Foodaktivist, lebt in Berlin
Olaf Deininger/Henrik Haase „Food Code"
Verlag Antje Kunstmann 2021, 350 Seiten, 25 Euro
eBook 19,99 Euro