Andrea Gerk
Lesen als Medizin
Die wundersame Wirkung der Literatur
"Ein Buch ist ein fliegender Teppich, der einen davonträgt. Ein Buch ist eine Tür. Man öffnet sie. Man tritt hindurch. Aber kommt man je zurück?" fragt die britische Schriftstellerin Jeanette Winterson. Bücher halfen ihr, sich einen Weg aus einer verzweifelten, einsamen Kindheit zu bahnen, durch die Erfahrung, dass sie durch die Sprache anderer ihre eigene Sprache zurückerobern konnte.
Zuhause im Schreiben
Im letzten Kapitel ihres Buchs über die wundersame Wirkung von Literatur stellt Andrea Gerk die Frage, ob ein Text wie ein Haus ist, dessen Tür immer offen steht, und sie versammelt Autoren, die im Schreiben ihr Zuhause gefunden und über die existentielle Wirkung des Lesens nachgedacht haben, die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller etwa:
"Es wird ein Sensorium aufgerissen, eine Empfindlichkeit für Dinge entsteht, die man vorher nicht hatte."
Zugang zur Welt
In Gefängnissen, Internaten oder Klöstern, erzwungener oder freiwilliger Isolation haben Bücher intensiven Zugang zur Welt eröffnet, getröstet und ermutigt. Zugleich dienten juristische und medizinische Fallgeschichten immer auch als Vorlagen für große Literatur. Andrea Gerk verbindet zahlreiche literarische Fundstücke mit dem Ertrag aus Begegnungen und Gesprächen, zum Beispiel mit dem Leiter der preisgekrönten Gefängnisbibliothek in Münster oder der Alt-Äbtissin eines Benediktinerinnen-Klosters.
Magische Kraft der Bücher
Sie hat sich auf Reisen begeben, in den Büchern, der Literatur selbst und zu Menschen, die von der magischen und heilsamen Kraft von Büchern überzeugt sind: Die Leiterin der Patientenbibliothek der Charité in Berlin kämpft um den Fortbestand ihrer Arbeit und weiß genau, welches Buch zu wem passt. In angelsächsischen Ländern hat Poesie- und Bibliotherapie längst einen festen Platz, und die Gründerin der Initiative "The Reader" aus Liverpool hat eine Leserevolution ausgelöst, mit Hunderten von Lesegruppen, Menschen, die gemeinsam lesen und ihr Leben verändern. Die Jugendbuchautorin Janne Teller erlebte als UNO-Beobachterin in Mozambique, wie sie nur mithilfe von Gedichten den Alltag von Gewalt und Brutalität bewältigen konnte:
"Ich bin überzeugt, dass Literatur wie jede Kunst dazu da ist, uns daran zu erinnern, was es heißt, ein menschliches Wesen zu sein."
Wörter trösten
Was sich im Gehirn abspielt, wenn wir uns lesend aus uns heraus bewegen, ist für Neurowissenschaftler ein ergiebiges Forschungsfeld. Andrea Gerk hat nicht nur mit Wissenschaftlern gesprochen, sondern sich selbst in die enge Röhre des Tomographen gelegt, wissend, dass Wörter trösten und Menschen einander "verbal kraulen", wie es der Lyriker Dirk von Petersdorff formulierte. Doch wie kommt es, dass uns beim Lesen körperliche Veränderungen spürbar werden, "künstlerisches Entzücken zwischen den Schulterblättern", wie Nabokov es nannte? Im Aufschlüsseln dieses kompliziertesten mentalen Prozesses steht die Hirnforschung noch am Anfang.
Abenteuer Lesen
Vergnüglich schildert die Autorin, wie sie die Bibliothek als Schauplatz ihrer eigenen Zwanghaftigkeit erlebt, ohne Zeit zum Lesen in schlechte Laune verfällt oder die Rituale ihrer Kinder studiert; zugleich blättert sie die Geschichte von Krankheit und Heilung auf und greift weit zurück in die Geschichte intellektueller Betätigung.
Das klingt niemals trocken oder belehrend, sondern ist von ihrer Begeisterung für das Abenteuer Lesen getragen und äußerst lebendig und klug gegliedert und präsentiert. So wie Montaigne in seinem berühmten Bibliotheksturm Zwiesprache mit lebendigen und toten Dichtern und Freunden hielt, steht die heilsame Anwendung von Selbstreflektion allen offen – Millionen von Internetnutzern ebenso wie – immer schon – Menschen, die lesen.
Ein Buch, das die Medizin, die es empfiehlt, selbst in hohem Maße bereithält!
(Lore Kleinert)
Andrea Gerk *1967 in Essen, Literatur- und Theaterkritikerin, Radiomoderatorin, lebt in Berlin
Andrea Gerk "Lesen als Medizin"
Die wundersame Wirkung der Literatur
Rogner & Bernhard 2015, 342 Seiten, 22.95 Euro
eBook 16,99
Weiterer Buchtipp zu Andrea Gerk
"Lob der schlechten Laune"