Bernhard Schlink
Abschiedsfarben
Geschichten
"Am nächsten Tag kamen die Erinnerungen. Sie stahlen sich in die Nacht, nicht als Bilder und Geschichten aus der Vergangenheit, aber als Erschrecken, verloren zu sein."
Spur des Schmerzes
Der Freitod des großen Bruders Chris und seiner seit vielen Jahren schwerkranken Frau Dina trifft den jüngeren Bruder mit heftigem Schmerz. Alle Schattierungen von Wut, Enttäuschung, Trauer scheinen auf, und "Wenn er das Weinen nicht verlernt hätte, hätte er geweint.". Bernhard Schlink verfolgt die Spur des Schmerzes und zeichnet das Bild zweier Brüder, deren Beziehung zueinander auch von altem Zorn, von Eifersucht und Unverständnis geprägt war. Oder war doch alles ganz anders?
Erfülltes Leben
Wie trügerisch Erinnerungen auch sein können, was sie verbergen und überschreiben, verwebt der Autor zu einem kunstvollen, durchlässigen Gewebe, das die Erfahrungen vieler Jahre trägt und Überraschungen bereithält. Nach den "Sommerlügen" und "Liebesfluchten" sind es diesmal die Abschiede, von denen die neun Geschichten erzählen – sehr unterschiedlich, und jede einzelne entwickelt einen bestechenden Sog, dem man sich gern überlässt, nicht ahnend, auf welche Untiefen er zusteuert. Die Geschichte von Bastian und Theresa etwa hat zunächst nichts mit Abschied, sondern mit dem Neubeginn zweier Menschen zu tun, die aus ihrer erotischen Begegnung sehr schnell ein erfüllteres Leben machen:
"Wie schnell es gehen kann! Er hatte im Leben bei allen wichtigen Entscheidungen überlegt und gezaudert – was er studieren, ob er heiraten, ob er sich selbständig machen soll, und sie war zu ängstlich gewesen, dem Werben ihres Mannes zu widerstehen, und zu ängstlich, gegen seine Bitte nach der Hochzeit weiterzustudieren. Nach der gemeinsamen Nacht waren sie wie verwandelt."
Zärtlichkeit für's ganze Leben
Eigene Kinder werden sie nicht haben, doch Bastian wird ein guter Vater für Theresas Tochter Mara. Der letzte Satz dieser Geschichte besteht in der Frage, warum aus etwas Falschem nicht etwas Richtiges werden könnte, und Bernhard Schlink weiß sehr genau, was richtig und was falsch ist, spielt aber unterhaltsam und klug mit den Fallstricken, die sich in dieser Geschichte ebenso stellen wie im Leben. Seine Figuren sind ambivalent, mitunter schuldig geworden, doch der Autor gewährt ihnen das Maß an Selbsterkenntnis, das sie in tiefere Schichten ihrer selbst vordringen lässt - jedoch gerade nur so weit, wie es ihnen möglich erscheint. In "Künstliche Intelligenz" etwa wird der Wissenschaftler, der seinen besten Freund an die Stasi verraten hat, seine Lebenslüge bis zuletzt verteidigen. Der Junge hingegen, der in "Der Sommer auf der Insel" seine Mutter bei einer Sommerliebe beobachtete, bewahrt sich das Glück der Zärtlichkeit für das ganze Leben – was schön ist, könne nicht falsch sein, und nicht jeder Betrug eines anderen ist ein Verrat an sich selbst.
Aus den Fugen geraten
"Das Gedächtnis ist ein Fluss, der das Schiffchen der Erinnerungen, haben wir es erst einmal auf ihn gesetzt, fort- und fortträgt. Zu den Geschichten gesellen sich die Bilder."
Durch die kunstvolle Konstruktion der Geschichten lässt Schlink die Vergangenheit in die Gegenwart einsickern und erlaubt Blicke in die Schneisen, die dabei entstehen und die Bilder verändern, neu einfärben, mal klarer werden lassen, mal schmerzlicher. Der Mann, dessen Leben nach seinem siebzigsten Geburtstag aus den Fugen gerät, sucht Erlösung bei der Frau, die er mal geliebt hat:
"Seit Wochen kommt alles hoch, alle Gemeinheiten, alle Peinlichkeiten, alle Fehler, die ich gemacht habe. Ich laufe durch die Straßen, weil die Erinnerungen dann nicht so weh tun, wie wenn ich zu Hause sitze, aber sie tun weh."
Doch Erinnerungen lassen sich nicht 'bewältigen', und mitunter bleiben als Trost nur: Altersflecken. Und Vergebung. (Lore Kleinert )
Bernhard Schlink, *1944 bei Bielefeld, Jurist, lebt in Berlin und New York, sein größter Erfolg ist der verfilmte Roman "Der Vorleser"
Bernhard Schlink "Abschiedsfarben"
Geschichten, Diogenes Verlag 2020, 232 Seiten, 24 Euro
eBook 20,99 Euro, AudioCD 19,38 Euro
Weiterer Buchtipp zu Bernhard Schlink
"Olga"