Bernhard Schlink
Olga
"Aber ich hatte Olga, meine Erinnerungen an sie waren mir kostbar, und ihr Chronist zu sein war mir genug." Erst im zweiten Teil des Romans tritt dieser Chronist auf den Plan, ein Mann, den Olga Rinke als etwas langweiliges, behütetes Kind empfand, der aber an ihr hing, ihren Geschichten zuhörte und in tiefer Freundschaft der tauben Näherin verbunden blieb, die die Kleidung der Familie richtete.
Treuer Chronist
Dass sie vor dem Krieg ein ganz anderes Leben hatte, die junge Lehrerin Olga, die 1945 aus dem schlesischen Dorf flüchtete, wird im ersten Teil des Romans umrissen: Das begabte Mädchen erkämpfte sich die Lehrerausbildung und sehnte sich nach einem Studium. In Tilsit wartete sie auf ihren geliebten Herbert, den Freund aus Kindertagen, der sie wieder und wieder verließ, um dem Abenteuer nachzujagen, in Deutsch-Südwest, Argentinien, Sibirien, bis er schließlich auf seiner Expedition zum Spitzbergen-Archipel verschwand. Die Briefe, die sie ihm 1913 bis 1915 schrieb und die ihn nie erreichten, gelangen schließlich zum getreuen Chronisten, der inzwischen selbst pensioniert ist und feststellen muss, wie wenig er über Fräulein Rinke wusste, zu deren Füßen er spielte und die ihn besser verstand als seine Eltern.
"Was ist Sehnsucht? Manchmal ist sie wie ein Gegenstand, der nicht zu übersehen ist, nicht zu verrücken ist, oft den Weg versperrt, aber ins Zimmer gehört und an den ich mich gewöhnt habe. Doch dann fällt sie plötzlich auf mich nieder wie ein Schlag, unter dem ich aufschreien möchte."
Es bleibt die Leere
Erst in diesen Briefen wird Olga Rinke lebendig, mit ihrer Anklage an die Männer, die in Kriegen und Abenteuern die Leere in ihrem Leben zu füllen suchten. Zugleich aber auch mit der Erkenntnis, dass sie, die Frau, der als Kind kaum Chancen eingeräumt wurden, ein selbstständiges, reiches und erfülltes Leben führen konnte. Bernhard Schlink entfaltet die überraschenden Wendungen dieses Lebens erst nach und nach, genau komponiert, so dass sich über die anfänglichen Bilder immer wieder neue, andere Farben legen und die vermeintlichen Gewissheiten konterkarieren.
Olga, die Lehrerin, die nach dem Verlust ihres Gehörs nicht mehr unterrichten konnte, war eine politisch gebildete und hellsichtige Frau, die ihren und Herberts unehelichen Sohn Eik zunächst verschwieg, ihn dennoch großzog und an die Nazis verlor. Nach dem Krieg fand sie keinen Kontakt mehr zu ihm, dem verbitterten Kriegsheimkehrer und Gestaposchergen. In ihren Briefen wendet sie sich an den einzigen Mann, den sie liebte, auch lange nach seinem Tod im ewigen Eis.
"Die Phantasie geht ins Leere, und die Leere ist auch, was Ihr eigentlich liebt und sucht. Du schreibst von Hingabe an die große Sache, aber Du meinst ein Verströmen in die Leere, ins Nichts."
Unerwartete Pointe
Die Sehnsucht nach fernen Kontinenten, nach Heldentum und Deutschlands Größe hat sie durchschaut und bekämpft, und den Jungen, der sich später als ihren Chronisten betrachtet, damit für sein eigenes Leben bereichert. Wie Bernhard Schlink diese unspektakuläre, späte Beziehung mit Finesse entwickelt und auf eine unerwartete Pointe zusteuert, ist anrührend und respektvoll zugleich, und dem verwitweten Mann, der Brüche hasste und ein beständiges Leben fand, gewährt er in seiner beharrlichen Suche nach Olgas Wahrheit eine ganz eigene Würde.
"Geschichte ist nicht die Vergangenheit, wie sie wirklich war. Es ist die Gestalt, die wir ihr geben."
(Lore Kleinert)
Bernhard Schlink, *1944 bei Bielefeld, Jurist, lebt in Berlin und New York, sein größter Erfolg ist der verfilmte Roman "Der Vorleser"
Bernhard Schlink "Olga"
Roman, Diogenes Verlag 2018, 320 Seiten, 24 Euro
eBook 20,99 Euro, Audio-CD 19,95 Euro
Weiterer Buchtipp zu Bernhard Schlink
"Abschiedsfarben"