John Burnside
So etwas wie Glück
Geschichten über die Liebe
Die Liebe ist in John Burnsides zwölf Geschichten nicht leicht zu finden. Die leisesten Nuancen der Gefühle und Gedanken sind es, auf die es ankommt, denn sie durchdringen das alltägliche Leben der Menschen bis zum Grund.
Flüchtige Momente
In der Erzählung ‚Pfirsich Melba‘ beginnt ein verwitweter Mann mit der Feststellung, das meiste in seinem Leben habe er vergessen. Nur die halbstündige Begegnung mit einer dunkeläugigen Frau in der Eisdiele, der italienischen Mutter seiner Schulfreunde, blieb lebenslang gespenstisch gegenwärtig. Für Momente, die ebenso banal wie einzigartig sind, hat der Autor ein untrügliches Gespür. Ihre Wirkung spitzt er jedoch nicht dramatisch zu, sondern lässt sie ganz beiläufig ins Muster der Geschichten einfließen.
„Wie kann nur ein einziger Moment solche Macht erlangen? Nichts, was bedeutsam scheint, kein präzise erinnerter, bahnbrechender Sieg, keine Niederlage macht die Seele zu dem, was sie ist; vielmehr gibt ein flüchtiger Moment, ein halbgesehenes Etwas das Muster vor und wird zum Ausgangspunkt, von dem das Stück eine Weile abweichen mag, zu dem es aber immer wieder zurückkehren muss.“
Flüchtige Momente wie diese verbinden John Burnsides Kurzgeschichten und öffnen den Weg ins Innere, in die Seelenlandschaften seiner scheinbar so gewöhnlichen Protagonisten und Heldinnen. Manchmal haben sie den Augenblick, der ihr Leben verändern könnte, bereits verpasst und kreisen um die Frage, warum das passierte. Die Antworten, die sie finden, sind in Melancholie eingebettet, gespeist vom Wissen um Vergeblichkeit.
Verwirrende Stille
Die Begegnung der jungen Bankangestellten mit einem ungewöhnlichen jungen Mann, der später von seinem Bruder, dem Freund ihrer Schwester Marie, zusammengeschlagen wird, lässt die Frage nach ‚So etwas wie Glück‘ zwar aufkommen, provoziert aber keine Wünsche oder Hoffnungen mehr.
„Anders als Marie wollte ich nicht, dass die Erde sich auftat und mich verschlang, aber in jenem Moment wusste ich, dass ich bereits zu verblassen begann. Das war gar nicht so übel, vielleicht hatte ich mir genau das immer gewünscht. Bleiben, wo ich war, und hinter der Tapete verschwinden. Nichts wollen – keinen guten Job, keinen Mann, keine Kinder. Weder Glück noch Geld. Nichts, was meine Eltern eine Zukunft genannt hätten.“
In der Erinnerung der jungen Frau macht Burnside verkrüppelte Gefühle und Resignation schmerzhaft spürbar. Auch der Lastwagenfahrer in ‚Die Kälte draußen‘, meiner Lieblingsgeschichte, hat sich mit der Lieblosigkeit seiner Frau längst arrangiert. Das Wissen um seine tödliche Krebskrankheit weckt jedoch nicht tiefe Verzweiflung, sondern schärft seinen Blick leise und gnädig, und sein ganzes Leben entfaltet sich auf einzigartige Weise auf kleinstem Raum. Als er während eines Unwetters einen Tramper mitnimmt und den verletzten, jungen Transvestiten nach Haus fährt, ergibt sich ein unangestrengtes Gespräch, das dennoch einen Augenblick tiefer Nähe ermöglicht. Später, zu Hause bei seiner schlafenden Frau, spürt er, dass allzu große Nähe jedoch die eingefahrenen Regeln seines Lebens infrage stellen könnten,
„…die Regeln unseres Systems kleiner Aufmerksamkeiten, Vermeidungen und bedächtiger, flüssiger Gespräche, die tagelang andauerten, Aufgeschnapptes und Neues aus dem Dorf, das beim Essen oder bei einer Tasse Tee ausführlich gewendet wurde, um die verwirrende Stille zu vertuschen, die uns befallen hatte. Manchmal war das peinlich, aber es funktionierte und war besser als jede der möglichen Alternativen.“
Kurze Augenblicke
Selbst im Wissen um die eigene Sterblichkeit sind es doch die kurzen Augenblicke von Freude oder Intensität im Geflecht alltäglichen Trotts oder, wie in ‚Schlampenflusen‘, im Elend häusliche Gewalt, die den Focus anders einstellen und Temperatur und Helligkeit in den aus Sprache kunstvoll erschaffenen Räumen behutsam verändern. Leise, denn in einer guten Kurzgeschichte passiert ja nicht viel, aber alles könnte geschehen, und aus dieser Spannung speisen sich auch John Burnsides Ausflüge unter die Haut der Anderen. ‚Fügung‘ ist eine Geschichte vom Ende der Kindheit, ein Mord und ein vermuteter Selbstmord zweier Liebender haben das Kind in der sterbenden Bergarbeiterstadt tief beeindruckt, und die Wildnis, die es längst nicht mehr gibt, hat sich ins Gedächtnis eingeschrieben. Meisterhaft baut Burnside hier Brücken zum Halbvergessenen in jedem Leben und zu Geheimnissen, die sich nicht aufklären lassen.
„…obwohl wir nur selten Tiere sahen, wussten wir, dass da draußen immer etwas war, was uns beobachtete. Füchse, Rotwild, manchmal Kreaturen, deren Namen wir nicht einmal kannten, die für ein, zwei Augenblicke aus dem Wald traten, um sich dann von dem abzuwenden, was sie von unserer Welt sahen, und zurückzukehren zu dem, was sie kannten.“
(Lore Kleinert)
John Burnside, *1955 in Schottland, vielfach ausgezeichneter Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Hörspielen und Lyrik
John Burnside "So etwas wie Glück"
Geschichten über die Liebe
aus dem Englischen von Bernhard Robben
Penguin Verlag München 2022, 256 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu John Burnside
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