Majgull Axelsson
Über die Gleise
„Die Gleise bildeten die Grenze aller Dinge. Des Walds. Der Kindheit. Des Lebens. Deshalb war es verboten, sich den Eisenbahngleisen zu nähern, und noch verbotener war es, sie zu überqueren.“
Kindliche Ängste
Wenn kleine Mädchen zusammen spielen, geht es immer auch um Konkurrenz, Neid, Selbstbehauptung: Die Ich-Erzählerin in der Titelgeschichte aus der Kindheit wird die Gleise überqueren und ihrer nervigen kleinen Schwester, auf die sie aufpasst, einschärfen, auf der anderen Seite sitzenzubleiben. Die Neunjährige weiß, dass es genauso wichtig ist, die gleichaltrige Freundin zu beeindrucken, und die Autorin Majgull Axelsson kennt die selbstauferlegten Anforderungen der Kindheit sehr genau und baut daraus ein präzises Bild mit vielen Facetten kindlicher Emotionen und Ängste. Und dann kommt der Zug…
Geschichten von Frauen
Die bisher unveröffentlichten Erzählungen sind nicht auf Dramatik angelegt, doch sie entwickeln große Spannung auf kleinem Raum. Axelsson entwickelt aus alltäglichen Situationen, der Ankunft und Passkontrolle in Schweden, dem Besuch bei der dementen Mutter im Heim, eindringliche Blicke in die Lebensgeschichten von Frauen. Was sie erlebten, ist immer präsent, Gepäck auf ihren Wegen, das sie zu tragen lernten. Josefin in der Geschichte „Schlangenaugen“ entfloh einer Kindheit voller Gewalt und kehrt zur Beerdigung ihrer misshandelten kleinen Schwester, die sie nie kennengelernt hat, erstmals zurück.
„Die Reise hat sie in ein rachsüchtiges Kind verwandelt, das gar nicht daran denkt, zu vergessen und zu verzeihen. Denn Schweden ist ein verdammtes Land der Heuchelei. Ein Land voller Feiglinge und Lügner.“
Spuren im Leben
Majgull Axelsson hat das Leid misshandelter Kinder als Journalistin kennengelernt, die unerträglichen Zustände im Elternhaus und das Versagen der Ämter und Behörden, und sie schrieb neben erfolgreichen Romanen auch Sachbücher über Kinderarbeit, Prostitution und Armut. Mit großem Einfühlungsvermögen verfolgt sie in den drei Geschichten die Spuren, die sich ins Leben der Frauen eingruben. Zu „Spaghetti mit Hacksoße“, so der Titel der dritten Erzählung, wurde die 14jährige Gina in der Familie ihrer Freundin nicht eingeladen, denn ihre Mutter galt als Hure, und sie verließ sie, als sie fünfzehn war.
„Meine Mutter war keine Hure. Sie nahm niemals Geld, was eigentlich schade war. Denn sonst wäre es uns etwas besser gegangen. Und sie war definitiv keine gute Hure.“
In wenigen knappen Sätzen gelingt es der Autorin, die Widersprüchlichkeit der Gefühle deutlich werden zu lassen, die vom Schlachtfeld Kindheit übrig blieben. In den drei Erzählungen begegnen uns Überlebende mit ihren Geschichten, die lange nachwirken, im schönen 9. Pressedruck des Logbuch-Verlags.
(Lore Kleinert)
Majgull Axelsson, *1947 in Landskrona/Schweden, Journalistin und sehr erfolgreiche und vielseitige Schriftstellerin, lebt in Stockholm
Majgull Axelsson „Über die Gleise“
Drei Erzählungen
aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt,
Logbuch Verlag Bremen 2022, 40 Seiten 10 Euro