Doris Dörrie
Die Heldin reist
Wer ein Held werden will, muss raus aus dem Haus, muss reisen und Abenteuer erleben. So will es der Mythos. Heldinnen sind nicht vorgesehen. Die Frau bleibt, wo sie ist und beschützt das Haus.
Kalifornische Rüstung
„Sie muss auch deshalb da bleiben, damit jemand zu Hause ist, wenn der siegreiche Held zurückkehrt ... Sie macht sich ständig Sorgen, am meisten um den Helden.”
Nicht so Doris Dörrie. Sie reist mit den Eltern von Kindheit an, mit ihren Schwestern auf dem Rücksitz, lauwarmen Malventee trinkend, von dem ihr regelmäßig übel wird. Später reist sie allein, studiert in den USA, erlebt Abenteuer und hat (meistens) keine Angst. Corona hat auch ihr das Reisen erstmal gestrichen, also schreibt die Heldin darüber:
„Vom gleißenden Licht Kaliforniens und der Aufforderung: Cheer up! Lächle, lächle, denk positiv, und fürchte nichts. Das ist die Rüstung, die hier jeder trägt ... aber ich fühle mich durch sie erdrückt und kam mir oft verlogen vor. Warum sollte ich so tun, als wäre alles just great, wenn es doch gar nicht stimmte?”
Grüner Tee und salzige Pflaumen
Mit ihrem ersten Spielfilm wird sie nach Tokio eingeladen, in ein Land, das ihr völlig fremd ist und in dem sie schon allein wegen ihrer Größe und der blonden Haare ein „gaijin” ist, ein Fremder, „der von draußen kommt und nie ganz hinein darf in dieses Land.” Aber sie lernt Japan kennen und lieben, die fast roboterhafte Höflichkeit ebenso wie den grünen Tee, salzige Pflaumen oder „die besten Eiersandwiches der Welt”. Sie fliegt fast jedes Jahr dorthin, und einer ihrer berührendsten Filme ist auch dort entstanden: „Kirschblüten – Hanami”.
In Tokio trifft sie Tatsu, die deutsch sprechen möchte. Sie hat einige Jahre in Hannover (wo Dörrie geboren ist) und Düsseldorf gelebt und ihre Gesangsausbildung abgebrochen. Den Traum von der großen Liebe will sie in Deutschland verwirklichen – und landet bei einer kranken alten Tante. Zur Rückkehr nach Japan entschließt sie sich erst, nachdem sie zwei brutalen, rassistischen Attacken ausgesetzt war.
Tag des Baumkuchens
Die reisende Heldin lernt auch Pepper kennen, den Roboter, der sie an der Rezeption ihres Hotels begrüßt:
„Freundlich wackelt er mit seinem weißen Plastikkopf, und auf seiner iPad-Brust darf ich meine Sprache wählen ... Ich habe ein Nichtraucherzimmer für sie reserviert.”
Und Tatsu führt sie in ein deutsches Café,
„in dem Bratwürstchen und Schokosahnetorte vor einem Alpenpanorama samt Bergwiese mit Enzian serviert werden.”
Umweht von eiskalter Gebirgsluft aus der Aircondition. Der Renner aber ist Baumkuchen, auf kriegerischen Umwegen von einem deutschen Bäcker nach Japan gebracht. Der 4. März ist hier der Tag des Baumkuchens.
Wenn die Heldin reist, will sie nicht oberflächliche Touristin sein, sondern sich möglichst schnell den Landessitten anpassen. Weshalb sie sich auch den strengen Regeln der Achtsamkeit in einem Zen-Kloster unterwirft und fast daran verzweifelt. Sie würde „auch Hijab oder Tschador tragen”, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es ist, als Frau nur verhüllt durch die Straßen zu gehen. Erstaunliche Erfahrung, als sie es nach dem 11. September in München tut:
„Ich fühlte mich auf eine mir unbekannte Art sicher. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte niemand mehr mein Alter, meine Figur, Frisur oder die Größe meines Busens beurteilen. Ich war unsichtbar und hatte gleichzeitig mehr Kontrolle über meine Umgebung.”
Neugierig auf die Welt
Geschichten und Anekdoten, Erlebtes und Erzähltes - nachdenklich, heiter, kurios: Doris Dörrie reist neugierig und mit wachem Geist durch die Welt, lässt sich auf immer neue Erfahrungen und Abenteuer ein, konfrontiert sich mit eigenen Privilegien, Verlusten und Vorurteilen. Egal ob in Kalifornien, Japan oder Marrakesch: Sie gleicht Fremdes mit Vertrautem ab und bewahrt sich dabei den offenen Blick auf das Fremde – unterhaltsam und klug.
(Christiane Schwalbe)
Doris Dörrie, *1955 in Hannover, deutsche Filmregisseurin und Autorin von Drehbüchern, Romanen, Kurzgeschichten und Kinderbüchern, lebt in München
Doris Dörrie "Die Heldin reist"
Diogenes Verlag 2022, 240 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Doris Dörrie
"Die Welt auf dem Teller" - Inspirationen aus der Küche