Lily King
Hotel Seattle
Erzählungen
Carol ist vierzehn, träumt sich hinein in die Romane von Charlotte Brontë und schreibt selbst ein Tagebuch, in dem sie deren Stil nachahmt. Die Familienverhältnisse sind prekär, der Vater ist wieder mal in einer Entzugsklinik, zusammen mit ihrer Mutter ist sie gerade bei ihm ausgezogen.
Ungewohnter Luxus
Für zwei Wochen soll sie als Babysitterin arbeiten und die Enkelkinder einer alten Dame betreuen, die mit ihrer Mutter bei der Großmutter zu Besuch sind. Carol wird in einem Herrenhaus leben, mit Bediensteten und Pool im Garten und zwei pflegeleichten Kindern:
„Der Job war nicht schwer, zumindest nicht, bis Hugh ankam. Margaret kochte, und Thomas, der Mann mit dem Eistütenkopf, servierte die Mahlzeiten und machte den Abwasch. Eine Dame namens Mrs Bay kam, um die Wäsche zu waschen, auch die widerlichen Stoffwindeln, auf denen Kay, die Mutter der Kinder, bestand."
Purer Luxus für das junge Mädchen, das sich schnell eingewöhnt und das neue Leben genießt. Sie erlebt eine halbwegs intakte Familie, in der es zwar auch Konflikte, aber keine Geldsorgen gibt und jeder seinen Platz hat. Alles gut also, bis Hugh, der Onkel der Kinder auftaucht, ein jungenhafter schlaksiger Typ, der erotische Gefühle in Carol weckt. Sie ist sich ihrer beginnenden Weiblichkeit noch nicht bewußt und läßt sich auf eine Begegnung mit ihm ein, die abrupt und desillusionierend endet.
Verdrängte Gefühle
Lily King lotet die Gefühle ihrer Protagonisten aus, bettet sie ein in detailgenaue und atmosphärische Schilderungen ihres alltäglichen Lebens, läßt Konflikte nicht sofort sichtbar werden. Wie bei Oda und ihrer Tochter Hanne, die an die Nordsee fahren, um dort Urlaub zu machen. Ihr Vater Fritz ist vor zwei Jahren gestorben, Oda, die sich finanziell für diesen Urlaub verausgabt hat, will mit ihr reden, den Verlust verarbeiten, aber Hanne weist sie jedesmal brüsk zurück:
„Erwachsene versteckten ihren Schmerz, ihre Ängste, ihre Fehler, aber Heranwachsende versteckten ihre Glücksgefühle, als könnten sie verloren gehen, wenn man sie zeigte." Erst nach einer dramatischen Lüge kommen sich Mutter und Tochter wieder näher. Ein Buchhändler ist in seine Angestellte verliebt und wagt nicht, ihr das auch zu zeigen. Ein Vierzehnjähriger erlebt einen glücklichen Sommer ohne einengende Regeln, als seine Eltern verreisen und ihn in der Obhut von zwei Studenten zurücklassen. Und eine Autorin, die nicht nur am Spagat zwischen Kinderbetreuung und Schreiben, sondern auch an Selbstzweifeln fast zerbricht, imaginiert einen drastischen Racheakt an einem Verlagsvertreter, der ihre Texte für schlecht hält.
Bester Freund
Ob Familien- oder Beziehungsprobleme, die erste oder eine neue Liebe, der Wunsch nach Anerkennung oder Erfolg – Lily King läßt ihre Geschichten ganz harmlos beginnen, um dann Schicht für Schicht die scheinbar heile Welt abzutragen und vorzudringen in Schmerz, Lebenslügen und Frustrationen, die sich niemand eingestehen will – bis eine jähe, überraschende und oft dramatische Wendung den Blick auf die verletzte Seele der Menschen freigibt. Wie in der Titelgeschichte: Der streng katholisch erzogene Ich-Erzähler versucht es immer wieder mit Mädchen, bis er begreift, dass er in seinen besten Freund Paul verliebt ist:
„Unsere homosexuellen Triebe wurden bereits im Keim erstickt, sodass sie gar nicht erst im Gehirn ankommen konnten. Aber sie hinterließen Spuren. Ich wusste, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte. Lange dachte ich, ich müsse mich nur von der Religion befreien. Dass das Mädchen in meinen Armen einfach noch nicht die Richtige sei.... Alle standen sie bereit. Doch keine war die Richtige."
Als er sich Paul gegenüber outet, meldet sich der einst beste Freund lange Zeit nicht mehr. Erst nach vielen Jahren treffen sie sich wieder – Paul ist ein gealterter, desillusionierter Handelsvertreter geworden, dessen Leben sich in Hotelbars und Konferenzräumen abspielt. Die Begegnung endet unerwartet demütigend und brutal.
Spannend und überraschend
Es sind spannende zehn Geschichten über ungewollte Einsamkeit, tiefe Trauer, verletzte Gefühle und die Unfähigkeit, das eigene Leben in den Griff zu bekommen, aber auch über unerwartete Momente von Glück und erfüllter Sehnsucht. Immer bleibt Lily King ganz nah bei ihren Figuren, erzählt mitfühlend und lebendig, ohne zu werten oder gar zu verurteilen.
(Christiane Schwalbe)
Lily King, *1963, US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Autorin, lebt in Maine, USA
Lily King "Hotel Seattle"
Erzählungen
aus dem Englischen von Hanna Hesse
Verlag C.H. Beck 2022, 252 Seiten, 24 Euro
eBook 17,99 Euro