Te-Ping Chen
Ist es nicht schön hier
Ein Häuserblock reiht sich an den anderen, größtenteils noch unbewohnt, die Fensterhöhlen ohne Glas. Am Fuß eines Abhangs, inmitten von Abfall und Bauschutt, taucht ein einzelnes altes Haus auf, die Erde ringsherum weggebaggert.
Insel im Bauschutt
Die Ich-Erzählerin, in der Heimatstadt ihres Ehemannes zu Besuch, ist schockiert: „Es stand nun auf vielen Stockwerken Erde ... wie eine Skulptur auf einem Sockel ... wie ein Kunstwerk sah es aus ... eine Stadt, die zu einer Pfütze zusammengeflossen war, mit einem letzten Haus, das wie eine Insel auf den Überresten schwamm.”
Noch wohnen Menschen dort, denn die Nachbarn versorgen sie mit Essen, das sie mit einem Eimer hochziehen. Nach dem plötzlichen Selbstmord ihres Mannes will sie von ihrer Schwiegermutter mehr über ihn erfahren, der ihr eine kurze Ehe lang fremd geblieben ist. Sie zeigt ihr die Sehenswürdigkeiten, zwei Tempel, Buddhastatuen, ein Museum – und diesen neuen Stadtteil:
„Die Regierung will das Land enteignen, aber die Eigentümer weigern sich auszuziehen.”
Sie selbst musste ebenfalls umziehen, das alte Haus ihrer Familie wurde abgerissen und durch eine Shopping Mall ersetzt - Alltag im aufstrebenden China. Ihr Sohn wollte nie zurück in sein Land, und die Ich-Erzählerin erfährt schließlich auch, warum, und welches Trauma er mit sich herumschleppte. "Feldforschung. Eine Ehe" nennt Chen diese Geschichte.
Widerstand im Internet
Lulu und ihr Bruder sind Zwillinge, er ist eine Minute älter, etwas schwerfällig, nicht sehr ehrgeizig, liebt Videospiele - ganz im Gegensatz zu seiner intelligenten Schwester, einer Musterschülerin, die es auf die Universität in der Hauptstadt schafft. Irgendwann entdeckt er, dass sie im Netz gegen die kommunistische Regierung agitiert, politische Botschaften absetzt, Bilder und Nachrichten von Demonstrationen postet, von Polizeigewalt, vom Tod eines Studenten im Polizeigewahrsam, von der erschlagenen alten Frau, deren Haus buchstäblich über ihrem Kopf abgerissen wurde. Lulu wird verhaftet, geschlagen, mißhandelt und kommt mehrfach ins Gefängnis.
Anpassung, politischer Widerstand, bürgerliches Leben, Chinas Weg zwischen Diktatur und Kapitalismus, Tradition und Moderne – Chens Geschichten spiegeln eine Realität, die in den Menschen und Familien für Brüche sorgt, für Ängste und Vorsicht. Die Autorin beobachtet zwar aus der Distanz – sie lebt in Amerika und kennt das Land als Korrespondentin in Peking und Hongkong – aber sie beobachtet sehr genau und mit viel Gespür für ihre Figuren, ihre Zweifel, ihren Opportunismus, ihre Anpassung.
Unterhaltsam und kritisch
Das geschieht nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern sehr subtil und zwischen den Zeilen, auch mit Witz und Humor, selbst wenn die Geschichte tragisch endet. Wie bei Cao Cao, der in seiner Kindheit eine Hungersnot überlebt, die Rinde von Bäumen gegessen hat und sich nun unbeirrt, aber erfolglos bemüht, Parteimitglied zu werden, tief davon überzeugt,
„dass die große Kommunistische Partei uns in der Erneuerung unseres Landes anführt. ... Aber die Partei wollte Studenten, keine alten Bauern, sie wollte Grips, sie wollte Talent, sie wollte (das wurde so allerdings nicht laut ausgesprochen) Vermögen.”
Und so bastelt Cao Cao weiter an Erfindungen aus Dingen, die andere als Müll entsorgen. Leider funktionieren sie nicht, weder der Roboter, noch das Flugzeug, das er zusammengeschraubt hat. Ausgesprochen komisch und mit einem ironischen Seitenblick auf Chinas technischen Fortschritt - "Es gab keine Stadt der Welt, die so schnell U-Bahnen baute" - beleuchtet die Autorin in ihrer letzten Story die offensichtliche chinesische Mentalität, sich abzufinden und das Beste draus zu machen. „Gubeiko gibt nicht auf” wird zur Metapher und zum Slogan auf der gleichnamigen U-Bahn-Station, auf der wegen angeblicher technischer Probleme kein Zug mehr hält – monatelang hausen die Menschen auf dem Bahnsteig, dürfen nicht nach oben. Nach und nach entwickelt sich reges, soziales Leben, sie werden von ihren Bewachern bestens versorgt und beginnen sich in ihrem merkwürdigen Gefängnis sogar wohler zu fühlen als „draußen”.
Die Demonstrationen in den 1980iger Jahren und ihre brutale Niederschlagung, Korruption und Zwangsumsiedlung, Tourismus in China und chinesische Touristen in Amerika - in ihren zehn Geschichten schaut Chen aus vielen Perspektiven auf die Weltmacht China, auf das Land, seine Menschen und seine Traditionen – unterhaltsam, kritisch und politisch.
(Christiane Schwalbe)
Te-Ping Chen, *1985 in Berkeley, Kalifornien, ist Journalistin und Autorin
Te-Ping Chen „Ist es nicht schön hier"
Storys
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