Ralf Rothmann
Theorie des Regens
„Irgendwann werde ich besonnen sein; irgendwann werde ich vernünftig sein und tot.“ Mit diesem Satz beginnen Ralf Rothmanns Notizen aus seinem ganzen Leben, und wir kommen ihm nahe.
Skizzen und Notizen
Die Kindheit, mit ihrer Sehnsucht und der Lieblosigkeit der Eltern im Ruhrgebiet der Fünfziger Jahre streift er hin und wieder, dann rufen seine Beobachtungen Reisen und Menschen aus der Erinnerung zurück, und wie nebenbei stellt er fest, dass zielloses Reisen der Zustand ist, der ihn am ehesten zur Sprache bringt. Das war, als alle Verlage das Lyrikmanuskript des jungen Mannes abgelehnt hatten, und nur ein winziger Verlag bereit war, es zu drucken, und er nach Mexiko fuhr, sein Traum seit dem 18. Lebensjahr, inspiriert von Malcolm Lowrys Roman „Unter dem Vulkan“. Von Mexiko nach Ecuador, von Quito über kleine Andenorte nach Lima – Rothmanns Notizen bieten ein farbiges Bild seiner Erinnerungslandschaft, die er in vielen kleinen und größeren Skizzen und Geschichten ausleuchtet, und die Bücher, die er mitnahm und nach und nach verliert, als letztes den schmalen Gedichtband von César Vallejo in der grandiosen Übersetzung von Hans Magnus Enzensberger, leuchten wie kleine Wegzeichen.
Seiltänzer für's Publikum
Freunde und Frauen, die sein Leben begleiteten, behaupten in seinen Notizen ihren Platz, in kleinen Facetten, die er auffunkeln lässt, etwa, wenn bei einer Lesung in Berlin nur eine Handvoll Zuhörer erscheint und sein Freund Gerd Henniger ihm rät:
"Ein Seiltänzer muss vor zehn Leuten ebenso konzentriert über das Sein gehen wie vor zehntausend. Sobald er anfängt, ins Publikum zu schielen, ist es aus.“
Wie beiläufig, aber mit langsamen Schritten stellt sich der Erfolg ein. Er will seine „Lücke hinterlassen, meinen Abdruck in der Luft“, schreibt in Paris, wo er 1992 Peter Handke, einem seiner Helden der späteren Jugend begegnet, verbringt die Zeit einer Dozentur im Oberlin College, Ohio, nach zehn Jahren dann noch einmal, und er lernt, seinem ‚liebenden Geschick‘ zu vertrauen, das ihn zur rechten Zeit zu den richtigen Büchern führt. Und an die richtigen Orte:
„Das Gefühl, nirgends hinzugehören, kann man in Berlin noch am ehesten ertragen.“
heißt es, in Berlin lebt er, fährt Bahn, zu Lesungen, Autorengesprächen, immer wieder auf Reisen, notiert seine Beobachtungen und denkt über sie nach.
„Gelobt sei, wer darauf verzichtet, der Schnellste zu sein; der renkt der Zeit die Schulter aus. Denn Geschwindigkeit ist ein Spuk, eine Windstörung des Herzens; jeder kommt an, wo er immer schon war.“
Hommage an die Liebe
Anjas Bemerkungen, seit langem seine Gefährtin, finden sich immer wieder zwischen den längeren und kürzeren Notizen: „Sei nett zu deinen Zeilen, Baby. Du musst das Buch erlösen.“ Achtunddreißig Jahre schließlich werden sie es miteinander ausgehalten haben, erfahren wir gegen Ende des wunderbaren Bandes, eine kleine Hommage an die Frau und die Liebe, die ihm das Genaueste im Leben ist:
„..es ist nach wie vor eine wilde Ehe, wie man in meiner Jugend sagte, mit der Liebe als Siegel, und nicht selten, wenn ich in Anjas blaue Augen sehe, fällt mir Petrarcas ‚Dem Himmel zu‘ ein.“
Diese Notizen, die in seinen Romanen keinen Platz fanden, bieten uns Lesern einen großen Raum für die eigene Phantasie, für Träume. Rothmanns Sprache und seine Art, fünfzig Jahre mit freundlichem, melancholischen Blick noch einmal zu beschwören, in Fragmenten, kurzen, präzisen Seitenblicken, Miniaturen und Reflektionen ist einladend, kunstvoll, und zugleich ganz und gar bei sich selbst. Was im Lärm des Alltags oft verschwindet, zaubert „Theorie des Regens“ zärtlich und elegant in Wörter.
„Eigentlich ist Schreiben nichts anderes, als die eigenen Spuren zu verwischen, wieder und wieder, von Fassung zu Fassung, bis die Geschichte sich von selbst erzählt.“
(Lore Kleinert)
Ralf Rothmann, *1953 in Schleswig/Holstein, diverse Berufstätigkeiten, lebt als Schriftsteller in Berlin, bekannt geworden vor allem durch seine Ruhrgebietsromane, zahlreiche Auszeichnungen
Ralf Rothmann „Theorie des Regens“
Notizen
Suhrkamp Verlag 2023, 215 Seiten, 24 Euro
eBook 20,99
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