Ralf Rothmann
Der Gott jenes Sommers
Nach "Im Frühling sterben" nun der zweite Roman über den Krieg. Diesmal steht das zivile Leben im Mittelpunkt. Frauen spielen die Hauptrollen, sie harren zuhause aus, warten auf ihre Männer, müssen Hunger, Angst, Zerstörung und Tod irgendwie überstehen. Und es sind die Kinder, die viel zu früh erleben, was Krieg bedeutet. Diese Erfahrungen werden sie prägen, ein Leben lang.
Ins Vakuum vordringen
Das gilt auch für die 12jährige Luisa, die mit Mutter und Schwester aus Kiel auf den Gutshof geflüchtet ist, den wir aus "Im Frühling sterben" schon kennen. Hier lebte der junge Melker Walter, der noch in den letzten Kriegswochen eingezogen wurde – wie der Vater des Autors. Über dieses Buch sagt Rothmann:
"Ich wollte die Welt hinter dem Schweigen meiner Eltern verstehen … die haben nie was gesagt … das erschuf ein Vakuum, in das ich irgendwie vordringen wollte …"
Walter arbeitet auf dem Hof als Melker, Luisa verliebt sich in ihn, es ist ihre erste Liebe, mitten im Krieg. Sie macht sich hübsch für ihn, erlebt ungeahnte, aufwühlende Gefühle und wird doch vorsichtig abgewiesen: "Du bist noch ein bisschen jung, oder?"
Ausnahmezustand
Für ihren Schwager, einen SS-Hauptsturmführer, ist sie das nicht, der wird zudringlich. Er ist der sprichwörtliche Nazibonze, der in Saus und Braus lebt, Feste feiert, sich am Besitz der Familie eines jüdischen Professors bereichert – "der bleibt eh weg" - den Überlebenden eines abgestürzten britischen Bomber gnadenlos erschießt und weiterhin am Endsieg festhält. Er nimmt sich, was er will - mit Luisas Stiefschwester ist er verheiratet, mit ihrer Schwester hat er ein Verhältnis, an der 12jährigen vergreift er sich. Rothmann lässt Luisa aus einer ziemlich altklugen und wenig kindlichen Perspektive von Ausnahmezuständen erzählen: Sie erlebt einen Luftangriff, der sie in den Graben schleudert, Flüchtlingsströme aus dem Osten, die sogar im Kälberstall einquartiert werden, Kiel brennt lichterloh, das beobachtet sie aus dem Dachfenster, halbtote Soldaten siechen im nahegelegenen Kloster dahin, ausgemergelte Sträflinge verrichten hinter Stacheldraht Schwerstarbeit.
Der Russe vor Berlin
Das alles ist schwer zu ertragen für sie, aber Schule gibt es nur sporadisch und sie hat alle Zeit, sich in Bücher zu flüchten und die Wirklichkeit auszublenden. Ihrer älteren Schwester steht der Sinn genau nach dem Gegenteil, einem exzessiven Leben: Enge Kleider, hohe Schuhe, edles Parfüm und rote Lippen, mit denen sie hochgestellte Nazis verführt und für ihre Dienste seidene Strümpfe geschenkt bekommt. Den Mund kann sie aber nicht halten:
"Alle hier haben ein Radio, alle wissen, dass es vorbei ist, oder? Dass der Ami bald den Rhein überquert, der Russe vor Berlin steht und die Wunderwaffe nur Gequatsche ist. Jeder Soldat, der jetzt noch ins Feld muss, stirbt für nichts und wieder nichts, und je eher sie euren Hitler und sein Gesocks zum Teufel jagen, desto besser für uns!"
Ihre nazitreue Halbschwester dagegen ist vom Endsieg ebenso überzeugt wie ihr Mann:
"Unsere Truppen schlagen den Feind schon noch! Ich habe sichere Informationen."
Luisas Familie lebt relativ gut in diesen mageren Zeiten, der Schwager sorgt für sie, aber auch der Vater, der mit Taschen voller Lebensmittel aus Kiel kommt, wo er ein Offizierskasino führt. Er ist depressiv, abhängig vom Alkohol, trägt die Parteinadel mehr hinter als auf dem Revers und wird sich eines Tages umbringen.
Durchhalten um jeden Preis
Rothmann schildert bedrückende Szenen, erzählt oft schonungslos drastisch, legt dabei viel Wert auf die genaue Zeichnung der Personen, die so unterschiedlich reagieren: hemmungslos überdreht wie die Schwester, verbittert und jammernd wie die Mutter, zynisch und resignierend wie der Vater. Es gilt durchzuhalten, um jeden Preis. Dazu gehört Denunziation ebenso wie Wegducken. Auch das zeigt uns Rothmann realistisch und überzeugend. Zwischendurch lässt er einen fiktiven Schreiber über das Grauen des Dreißigjährigen Krieges berichten – ein entbehrlicher Kunstgriff, denn das Buch wäre auch ohne diese grausigen, schwülstigen Texte eindringlich genug.
(Christiane Schwalbe)
Ralf Rothmann *1953 in Schleswig/Holstein, Maurerlehre, diverse Berufstätigkeiten, lebt als Schriftsteller in Berlin, bekannt geworden vor allem durch seine Ruhrgebietsromane, zahlreiche Auszeichnungen
Ralf Rothmann "Der Gott jenes Sommers"
Roman, Suhrkamp 2018, 254 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro, AudioCD 13 Euro
Weitere Buchtipps zu Ralf Rothmann
Theorie des Regens - Notizen
Im Frühling sterben