Bora Ćosić
Lange Schatten in Berlin
Was braucht der Flaneur, der um die Durchlässigkeit der Orte weiß und sich von ihren Passagen auf unbekannte Wege verlocken lässt? Wegmarken vor allem, geheime Zeichen, die nur er deuten kann, und so beginnt Bora Ćosić den Leitfaden, den er selbst bestimmt, mit den Treppenhäusern.
Reich verziert
In Berlins alten Häusern sind sie besonders schön, mit geschliffenen Spiegeln ausgestattet, von Messingstäben gehaltenen Teppichen, gedrechselten Geländern, und Ćosić bewegt sich in die Innenhöfe, durch die reich verzierten Wohnungstüren, studiert die Bordüren, die die Räume mitunter in zwei Hälften teilen, und im Halbdunkel der Diele gleitet sein Blick zurück in die Kindheit, zu den Eltern.
Eine einzige Wohnung
Auf den langen Schatten eines Lebens im bewegten und heillosen 20. Jahrhundert gleitet der Autor durch die Räume der Stadt und begegnet "Göttern des Nichts" und nur für ihn entzifferbaren Zeichen für Gewalt und Trauer.
"Berlin ist eine einzige Wohnung, nur in viele Orte aufgeteilt. Alle realen Räume gehören dazu, ebenso wie die, die nie gebaut werden. Jede Stadt hat darauf ein Recht. So wie meine potentielle Wohnung jedes Stück Raum beerbt, das ich mir im Laufe des Lebens gemerkt habe."
Räume der Zukunft
Die Räume, in denen Ćosić, einer der großen Autoren des untergegangenen Jugoslawien, seine Zukunft verstauen will, sind weit verteilt und zugleich auf sprechende Details konzentriert – die Linse des Spions an der Tür, der Briefkasten - und aus der Beobachtung der Brandmauern und abblätternden Fassaden eröffnen sich Blicke wie in die Daguerreotypien in alten Familienalben.
Wie im Traum
Ćosić weiß um die Gespenster, die in den Winkeln der Belgrader Kindheit in den dreißiger Jahren und des "Berliner Altwerdens" hausen, doch er beschwört sie in diesen Miniaturen nicht, sondern belässt es bei der Skizze, der Andeutung. Der Flaneur bewegt sich zwischen seinen Wegmarken wie im Traum.
"Ich stöbere im Abgelebten, dem sang- und klanglos verschwundenen Schicksal, wie in einer Geldbörse, die einer verloren hat."
Raum und Zeit
Und was er findet und im Beschreiben erschafft, ist ein wunderbares, dichtes Textgewebe, in dem sich beständig neue Perspektiven eröffnen und sich aus den Teilen des Puzzles unerwartete Bilder übereinander schieben. Der Respekt vor dem Quantum an Unbekanntem, das sich nur durch einen Überschuss an Phantasie entschlüsseln ließe, leitet den Flaneur; und er belässt es dabei, uns, die Leser, anhand der von ihm gesetzten Wegmarken mit Raum und Zeit der Stadt bekannt zu machen, wie er, der vor gut 20 Jahren Belgrad verließ und nach Berlin zog, sie erlebt. Eine wunderbare Einladung, die Stadt auf dieser Spur neu zu entdecken!
Lore Kleinert
Bora Ćosić *1932 in Zagreb, Schriftsteller mit zahlreichen deutschen Preisen, lebt in Berlin und Rovinj
Bora Ćosić "Lange Schatten in Berlin"
Schöffling & Co 2014, 128 Seiten,16,95 Euro
eBook 12,99