Henry F. Urban Die Entdeckung Berlins
Wenn ein Berliner nach New York auswandert und in diese Stadt zurückkehrt, um sie erneut zu entdecken, dann ist Berlin eindeutig im Vorteil: Der Journalist und Autor Henry F. Urban jedenfalls flaniert durch diese Stadt mit dem kundigen Blick eines Mannes, der die "beiden Riesen-Babys unter den Weltstädten" kennt und gerne das "Ungleiche und Gegensätzliche" hervorhebt.
Luftig, grün und blumig
Berlin hat nicht nur die schöneren Denkmäler als New York, ist geräumig, luftig, grün und blumig, man isst hier auch besser, bekommt Hausmannskost wie Bouillon-Kartoffeln mit Rinderbrust und Meerrettich oder Erbsen mit Pökelfleisch und Sauerkraut, und sitzt in Cafés, um mit Muße und Genuß alte Damen, Börsenmakler oder Schauspieler zu beobachten.
Angst vor dem Hungertod
Es ist ein großes Vergnügen, Urban dabei zu begleiten, wie er durch die Reichshauptstadt spaziert, den Berlinern in ihrer "cholerischen Derbheit" aufs Maul oder in der Elektrischen in die Taschen schaut:
"Irgendwo in seinem Anzug scheint der Berliner eine Tasche zu haben, in der immer eine belegte Stulle sitzt, zum Schutz vor dem Hungertode … Welche erfrischenden Zurufe habe ich nicht schon auf der Straße von Kutschern oder von Lieferanten .. erhalten, als da sind: "Olle Blindschleiche, koof da doch 'n Paar neie Oogen!"
Stullenpapier und Wurschtpellen
Gewiss, der Berliner war und ist von ruppiger Natur und lässt sich die Butter nicht vom Brot nehmen, ohne Bier würde er verdursten, sonntags pilgert er mit Frau und Kind in den "Jrunewald", um ihn mit "Stullenpapier, Wurschtpellen und Eierschalen zu schmücken" und erstattet ansonsten auch gern mal Anzeige, wenn der Nachbar Blumen gießt und das Wasser auf seinen Balkon läuft.
Mollige Meernixen
Das alles beobachtet Urban vor über 100 Jahren, plaudert überaus humorvoll über den Alltag der Berliner und ihr Geschäftsleben, über schöne Häuser und breite Straßen, über Dienstmädchen und Witwen, die dem "Inschtallatör … und zehn Kutschen beim Bejräbnis" nachtrauern, begutachtet das Badeleben in Heringsdorf, bewundert gestreifte Meernixen und ihre gewisse Molligkeit im Gegensatz zu "viel weiblicher Magerkeit" in den Seebädern New Yorks. Ohnehin kommt New York bei all' den heiteren Vergleichen der beiden Metropolen eher schlecht weg.
Loblied auf die Berliner
"Die Entdeckung Berlins" ist ein Loblied auf die Berliner, ihren Dialekt und ihre Lebensart, die so ganz anders ist als die der New Yorker, die unter Geldgier und "Dollaritis" leiden, und im Vergleich zum lockeren Berliner Lebenswandel prüde, kulturlos und puritanisch vor sich hin leben. Da küsst man sich "mitten auf dem Kurfürstendamm am hellen Tage" - in New York ein Unding.
Urban entdeckt das amerikanische Berlin und muss sich mit deutscher Bürokratie bei der "Einkommenssteuerveranlagungskommission" herumschlagen – selbst das wird zu heiteren Posse, geschrieben in der Form des klassischen Feuilletons, das es in dieser kunstfertigen Ausprägung kaum noch gibt.
Sorgfältige Recherche
Erschienen sind die Entdeckungen Urbans, der 1862 in Berlin geboren wurde, hier aufwuchs und mit 25 Jahren in die USA auswanderte, zunächst im "Berliner Lokalanzeiger", dann als Buch. Michael Bienert, Journalist, Stadtführer und Autor hat sie wunderbarerweise wiederentdeckt, mit historischen Fotos und einer sorgfältig recherchierten "Spurensuche zwischen New York und Berlin" über Leben und Arbeit von Henry F. Urban ergänzt.
Literarische Stadtrundgänge, geschrieben mit scharfem Blick und spitzer Feder, humorvoll, witzig und satirisch und unbedingt lesenswert.
(Christiane Schwalbe)
Henry F. Urban "Die Entdeckung Berlins"
Herausgegeben von Michael Bienert
Verlag für Berlin-Brandenburg 2014, 184 Seiten, 18,99 Euro