Stefan Großmann
Wir können warten
oder Der Roman Ullstein
Berlin in den 20iger Jahren – eine legendäre Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Blütezeit in Kunst, Kultur und Wissenschaft. Es waren nicht umsonst die "Goldenen Zwanziger", die 1929 mit der Weltwirtschaftskrise ein Ende fanden.
Seitenwechsel
Die Nationalsozialisten kündigen sich an, der Hass auf Juden wird evident, Politiker wechseln ohne Not die Seiten – auch im allzu liberalen Verlagshaus Kronstein, dem Haus Ullstein mit seinen jüdischen Besitzern, werden sie sich durchsetzen. Keine leichte Aufgabe angesichts zunehmend fehlender Kompetenz und politischer Kraftlosigkeit der Weimarer Republik.
Spiegel der Zeit
Fast ist der Verlag ein Spiegel der politischen Verhältnisse, denn die Brüder sind zerstritten, verfolgen gegensätzliche Ziele, können deshalb nicht angemessen auf die krisenhafte Situation reagieren, in der sich ihr Verlag befindet, und fördern nach Gutdünken: "Wenn der eine dich begünstigt, werden dich die anderen fünf entschieden ablehnen."
Entpolitisierung
Es gibt bei den Brüdern nicht nur einen Chef – und der wechselt im Laufe der politisch turbulenten Jahre, weil die Zeiten bedrohlich und die Zeitungsmacher unsicher werden. Wenn dann noch die Affäre mit einer Journalistin hinzu kommt, die als Spionin diffamiert wird, dann lässt sich nur schwer über politische Meinungsbildung diskutieren:
"Unser Erfolg beruht darauf, dass wir ein Minimum von Politik in unsere Blätter streuen und meistens formulieren wir bloß die Meinungen, die in breiteren Bevölkerungskreisen schon bestehen." Inzwischen geht es um mehr – "Entpolitisieren, das war es, was das Geschäft erforderte."
Am Abgrund
Stefan Großmann schildert pointiert und bissig die Zustände eines am Abgrund stehenden Verlagshauses. Er schildert versteckten und zunehmend offenen Judenhass:
"Im letzten Jahr war 'Saujud' das Lieblingswort der Deutschen geworden, man hörte es in Berlin in Straßenbahnen, Cafés, im Theater und auf der Straße ..."
Er schildert die Liebe für schöne Jüdinnen, der zumindest zwei Brüder verfallen (und ein Politiker), die Tragik des schnellen Todes eines Bruders und die Erkenntnis eines anderen, dieses Land schnellstens verlassen zu müssen.
Gefürchtet und bewundert
Stefan Großmann war Journalist, bis 1919 Feuilletonchef der Vossischen Zeitung und als solcher Zeitzeuge. Er hat "diese turbulente, journalistisch, wirtschaftlich und politisch krisengeschüttelte Zeit von 1928 bis 1933" miterlebt und entkam 1933 nur knapp den Nazis. Sein Roman ist vordergründig ein Roman über das Haus Ullstein, liefert zugleich aber ein Bild der politischen Verhältnisse, die der Pressefreiheit Schritt für den Schritt den Garaus machen, um "arisierte" Betriebe zu schaffen: "Ich finde die meisten Juden etwas stark kritisch. So viel Kritik wirkt leicht zersetzend..."
Spannende Zeitgeschichte
Im Urteil von Vicki Baum, erfolgreiche Schriftstellerin der Weimarer Republik, war Großmann "einer der gefürchtetsten und bewundertsten Journalisten, unfehlbar in seinem Urteil über Theater, Politik und Politiker". "Wir können warten" ist ein spannendes Stück Zeitgeschichte über politische Moral und journalistische Prinzipien, über die Rolle der Medien und ihre Knebelung in bedrohlichen Zeiten des Umbruchs.
Dieser Roman wurde vom Verlag Berlin Brandenburg wieder entdeckt und mit einem ausführlichen Vorwort von Herausgeber Erhard Schütz versehen, der ihn lebensgeschichtlich und politisch einordnet.
(Christiane Schwalbe)
Stefan Großmann (1875 - 1935) lebte als Journalist, Schriftsteller und Dramaturg in Wien, Paris und Berlin.
Stefan Großmann "Wir können warten"
oder Der Roman Ullstein
Verlag Berlin Brandenburg 2014, 384 Seiten, 22.99 Euro