Inge Jens
Langsames Entschwinden
Vom Leben mit einem Demenzkranken
Über die Demenzerkrankung von Walter Jens schrieb Inge Jens in den Jahren 2005 bis 2013 Briefe an "Freunde, Bekannte, aber auch an gänzlich Unbekannte". Nachdenklich und berührend reflektiert sie darin das "langsame Entschwinden" ihres Mannes, dieses brillanten Rhetorikers, der in Deutschland eine glänzende wissenschaftliche Karriere gemacht hatte.
Unerfülltes Versprechen
Sie waren ein intellektuelles und politisches Paar, schrieben gemeinsam Bestseller über die Familie Thomas Mann, setzten sich für aktive Sterbehilfe ein. Walter Jens und Hans Küng verfassten ein 'Plädoyer für Selbstverantwortung' mit ihrem Buch "Menschenwürdig sterben". Im "Nachwort in eigener Sache" (erweiterte und aktualisierte Neuauflage 2009) erklärt Inge Jens, dass sie eben dieses ihrem Mann einst in einer Vorsorgevollmacht gegebene Versprechen nicht würde erfüllen können.
Hoffnung auf Genesung
Ihr neues Buch ist sachliche und emotionale Auseinandersetzung sowohl mit dem Thema des menschenwürdigen Sterbens, das ihr sicher auf der Seele lag, als auch mit einer Krankheit, die schleichend kam, nicht gleich als Demenz erkennbar war. Inge Jens hat sich "immer an die Hoffnung auf Genesung geklammert", brauchte Jahre, "bis ich die Demenz meines Mannes auch als solche bezeichnen konnte."
Ihm selbst hat sie es nicht gesagt, vielleicht aus Furcht, dass er fordern könnte, "ihm das immer wieder so vehement eingeforderte Recht auf Sterbehilfe endlich zu gewähren. Ich habe es nicht geschafft."
Belastung und Trauer
Inge Jens beschreibt den langsamen und schmerzlichen Prozess der Ablösung, der erleichtert wird durch das große Glück, eine geeignete Pflegerin für ihn zu finden, die sich liebevoll und geduldig zehn Stunden am Tag ihn kümmert – ein materielles Privileg. Irgendwann ist ihre gesamte Familie in die Betreuung von Walter Jens eingebunden, der die intensive Zuwendung nicht nur zulässt, sondern offensichtlich auch genießt:
"Er ist den halben Tag bei Frau H. auf ihrem Hof, wo er sich wohl fühlt … Walter 'läuft mit', backt Kuchen und isst ihn dann auch mit Behagen. Essen ist seine große Leidenschaft. Kaum vorstellbar für den, der ihn früher gekannt hat."
Nach einer langen und geistig erfüllten Beziehung ist es nur schwer zu ertragen, dass der geliebte Partner nicht nur Schreiben, Lesen und Artikulieren vergißt:
"Die vertrautesten Menschen kann er allenfalls noch als 'Mobiliar' in eine Umgebung einordnen: stets vorhanden, ja, unentbehrlich, manchmal sogar angenehme Gefühle auslösend … aber die Zuordnung: Sohn, Ehefrau, Freund oder Nachbar existiert für ihn nicht mehr."
Ein Mensch
Die sehr persönlichen Briefe werden ergänzt durch den Bericht über das Leben mit einem Demenzkranken, in dem die 90jährige Inge Jens kritisch über ihre Erfahrungen mit Pflegeeinrichtungen und Krankenstationen berichtet, vor allem aber über den eigenen Entwicklungsprozess von einer Ehefrau zur pflegenden Angehörigen, die stets die Würde ihres Mannes im Blick hatte. Zu Beginn ist sie überfordert von der physischen und psychischen Last, die es bedeutet, ihren Mann langsam zu verlieren, Nachsicht und Geduld zu üben, fürsorglich zu sein, aber auch achtsam sich selbst gegenüber.
Offene Diskussion
"Was lebt, will leben", sagt Inge Jens und macht mit ihrem Buch voller Achtung und Empathie nachvollziehbar, warum sie ihrem Mann beim Leben und nicht beim Sterben geholfen hat. Er ist zwar keine Person mehr,
"aber er ist ein Mensch … und das ist das große Erlebnis für mich: bis zu welchen 'Tiefen' ein Mensch ein Mensch bleibt."
Ein Buch, das Mut macht in einer Zeit, in der die Diskussion über Demenz, auch über die von Prominenten, kein Tabu mehr ist.
(Christiane Schwalbe)
Inge Jens "Langsames Entschwinden"
Vom Leben mit einem Demenzkranken
Rowohlt 2016, 160 Seiten, 14,95 Euro
eBook 12,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Inge Jens
"Am Schreibtisch" - Thomas Mann und seine Welt