Thomas Melle
Die Welt im Rücken
Wenn bei Thomas Melle die Neuronen im Kopf explodieren, wenn er Sex mit Madonna hat oder Björk um ihn herumtänzelt, dann ist es wieder soweit, dann hat er einen manischen Schub, der ihn wie einen Rasenden durch die Welt hetzen lässt.
Genetische Mitgift
Dann kippt er dem leibhaftigen Picasso Rotwein in den Schoß und sieht "die Stars plötzlich aus allen Löchern gekrochen" kommen. Der erfolgreiche Autor und Dramatiker ist manisch-depressiv. Heute heißt das bipolar, um "der Benennung das diskriminierende Element" zu nehmen, auch wenn der alte Begriff viel besser passt: "Erst bin ich manisch, dann depressiv … eine genetische Mitgift wohl."
Thomas Melle hat seiner nunmehr seit siebzehn Jahren immer wieder ausbrechenden Krankheit ein Gesicht gegeben. Mit schmerzhafter Eindringlichkeit beschreibt er Paranoia und Psychosen, Panikzustände, Zerstörungswut, den tiefen Fall, die totale Ausweglosigkeit, den kaum erträglichen seelischen Schmerz, die alles lähmende Depression.
Drohende Katastrophe
Er tut es mit gnadenloser Genauigkeit, knallt sich selbst und dem Leser buchstäblich vor die Füße, was ihm widerfährt, analysiert bohrend genau und oft mit nackter Verzweiflung Beginn und Entwicklung seiner Krankheit, fahndet nach den Ursachen, die doch nicht eingrenzbar sind, niemals nur eindimensional zum Beispiel aus seiner schweren Kindheit herrühren, auch wenn das verstärkend gewirkt haben mag. Immer wieder geht er der drohenden Katastrophe auf den Grund, sucht nach Erklärungen, listet medizinische Einzelheiten auf, denn natürlich kennt er irgendwann alle Stufen des Prozesses von Manie und Depression:
"Die Sinneseindrücke werden prasseln, die Hirnaktivität wird hochschießen und sich jeglicher Kontrolle entziehen … Neurotransmitter vermehren sich und planen den hysterischen Aufstand. Bald überschwemmen sie das Terrain … dann kocht der Gehirnstoffwechsel über, und der Mensch rastet aus."
Geschlossene Abteilung
Melle ist häufig ausgerastet, hat Freunde bis zur Grenze ihrer Belastbarkeit strapaziert und sie verloren, ist irgendwann hoch verschuldet, wird verhaftet, landet in einem betreuten Wohnheim, versucht dreimal sich umzubringen. Er wird mehrfach in die Psychiatrie eingewiesen, auch in die geschlossene Abteilung, hat sich immer wieder selbst entlassen oder ist abgehauen, konnte zu Ärzten und Psychiatern nur selten und niemals nachhaltig Vertrauen aufbauen:
"Die Psychiatrie ist ein Sammelsurium von Fehlexemplaren, die, grob durcheinander gemischt, entsprechend wild miteinander regieren. Da werden Depressive mit Schizophrenen, Maniker mit Borderlinern, Gedächtnislose mit Suizidenten und Süchtlern zusammengelegt, und natürlich knallt es immer wieder … und Frust und Wahn entladen sich …"
Unsichtbarer Helm
Dem erklärten Informationsjunkie, der ohne Internet, Bücher und Medien nicht auskommt, treiben zerstörerische Kräfte, die er nicht steuern kann. Medikamente helfen nur zeitweise, aber sie benebeln auch, sind nicht wirklich nachhaltig, haben Nebenwirkungen, schirmen ihn ab von der Welt: Ich fühlte mich
"ruhiger, wattierter, hatte eine Art unsichtbaren Helm auf dem Kopf, der sich einerseits der Erschöpfung nach der ersten neuronalen Überfeuerung, andererseits den herunterdimmenden Medikamenten verdankte."
Melle schluckt sie nicht mehr, wenn scheinbar alles wieder ok ist – und der Teufelskreis beginnt erneut. "Drei Großmanien" hat er schon hinter sich, Scham, Apathie, Trostlosigkeit und abgrundtiefe Leere der Depression inklusive.
Literarisch brillant
Ein erschütterndes Dokument, das in seiner literarischen Brillanz und Intensität der Schilderungen, Analysen und Erfahrungen die Tragik und Zerstörungswut dieser Krankheit zeigt, in der man sich niemals "einrichten" kann; sie mündet in Einsamkeit und Isolation und in der permanenten Angst vor dem nächsten Schub, der diesen außergewöhnlichen Autor an sich selbst zerbrechen lassen könnte.
(Christiane Schwalbe)
Thomas Melle *1975 in Bonn, deutscher Autor von Romanen und Theaterstücken sowie Übersetzer, lebt in Berlin. "Die Welt im Rücken" stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2016.
Thomas Melle "Die Welt im Rücken"
Rowohlt 2016, 352 Seiten, 19,95 Euro
eBook 16,99 Euro, AudioCD 24,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Thomas Melle: 3000 Euro