Andrea Badey und Claudia Kühn
Strom auf der Tapete
"Also nehmen wir mal an, ich wäre Clara. Wie wäre dann der Plan, frage ich meine Kaulquappen. Aber die Arschlöcher sind abgetaucht. Wahrscheinlich zu laut hier. … Fürs Kaulquappenangeln muss es leiser sein, eindeutig."
Stresszeiger auf elf
In Ron Roberts Kopf geht es aber meistens nicht leise zu. Im Traum taucht eine Meute Wölfe auf, und am Tag gibt es den inneren Stresszeiger, der wie eine Uhr funktioniert und fast nie unter drei fällt. "Eins ist vollchillig. Kenne ich nicht." Wenn es eins geben würde, wäre man wohl tot, vermutet Ron.
Ron lebt mit seiner Mutter und wechselnden "Muckimännern" in einer Hochhaussiedlung am Rande von Frankfurt an der Oder. Im Gegensatz zu Clara hat er keine Pläne, nur ein altes Foto der Mutter als Oderbruchkönigin aus der Küchenschublade und den Wunsch herauszufinden, wer sein Vater ist. Clara bleibt für sich, sie ist neu in der Klasse, immer ganz in Schwarz gekleidet und sitzt seit einem Jahr im Rollstuhl. Während der Sportstunde liegt Ron auf der Matte, die eigentlich für sie bestimmt ist. Er soll ihr Gesellschaft leisten.
Schneewittchenauto
Die beiden machen sich an seinem 16. Geburtstag auf den Weg, sie hat einen Plan. "Mann, die Frau ist das reinste Rollkommando. Aber irgendwie bin ich überrumpelt von ihrer Power." Sie nehmen das Auto, das Muckimann vor dem Haus abgestellt hat, ein weißes Cabriolet mit roten Ledersitzen, "ein Schneewittchenauto". Was wie eine Flucht beginnt, wird zu einem Roadtrip von Frankfurt zuerst in Richtung Berlin, wo Clara noch etwas klären will. Und dann weiter zur Wahl der Oderbruchkönigin, in ein winziges Dorf nahe der polnischen Grenze, dorthin führt sie das Foto.
Königinnenwahl
Ohne Clara würde Ron schnell aufgeben, bisher hat er immer nur Zettel an den Kühlschrank geheftet, um nach seinem Vater zu fragen. Jetzt ist er auf der Flucht vor der Polizei, muss Auto fahren lernen und sich mit Claras fordernder Art auseinandersetzen. Wenn es darauf ankommt, weiß sie aber, wann sie schweigen muss. Sie mischen die Königinnenwahl ziemlich auf – Ron prügelt sich und Clara fährt im Brautkleid über den Laufsteg. Zwei Einzelgänger auf einem gemeinsamen Trip, der sie aus ihrer Isolation herausreißt:
"Weil ich die Scheißfragerei nicht mehr aushalten kann, knöpfe ich sie mir richtig vor. Genau genommen knöpft mein Gehirn sie sich vor. Es nimmt richtig Fahrt auf. Ich bräuchte hundert Seiten, wenn ich aufschreiben wollte, was mir alles durch den Kopf schießt: Bilder, Wörter, Mordgelüste aller Art. Alles durcheinander. ... Irgendwie klappt nichts davon. Dafür bräuchte ich ein Lasso oder wenigstens was Ähnliches. Mein Stresszeiger dreht komplett durch."
Kann das gut gehen?
Der "Assi" aus der Hochhaussiedlung und die "Rolli-Tussi" mit den rechten Eltern in einer Road-Novel - ja, das geht gut, es geht sogar sehr gut. Den Autorinnen gelingt es, eine zugleich schnodderige und doch liebevoll poetische Sprache zu finden. Erwachsenwerden auf die harte Tour, ein wenig verrückt, dabei trotzdem glaubwürdig.
(Iris Knappe)
Andrea Badey ist Autorin, Schauspielerin, Kabarettistin und Sängerin, lebt in Köln; Claudia Kühn schreibt Drehbücher, Hörspiele und Romane (unter anderem die Bücher Türkisch für Anfänger), lebt in Berlin. Ihr erster gemeinsamer Roman hat den Peter Härtling Preis erhalten.
Andrea Badey, Claudia Kühn "Strom auf der Tapete"
Beltz & Gelberg Verlag 2017, 180 Seiten, 12,95 Euro
eBook 11,99 Euro
Ab 14 Jahren