Dirk Reinhardt
Über die Berge und über das Meer
Soraya ist die siebte Tochter und wird deshalb nach altem paschtunischem Brauch vom Mullah zum Jungen erklärt, um die Schande der Eltern zu tilgen, dass sie keinen Jungen zeugen können. Sie wächst als Samir in einem kleinen Dorf in den Bergen Afghanistans unter Jungs auf, geht mit ihnen zur Schule, spielt und kämpft mit ihnen, während ihre Schwestern das Haus nie allein verlassen dürfen.
Aus Samir wird Soraya
Soraya hat sich als Samir mit Tarek angefreundet, einem Hirtenjungen aus der Volksgruppe der Kuchi, die jedes Frühjahr auf die Weiden in der Nähe des Dorfes kommen. Schon seit Wochen wartet sie sehnsüchtig auf den Freund, der so wunderbar Geschichten erzählen kann. Dies ist ihr letzter Sommer in Freiheit; die Schwestern heiraten eine nach der anderen, und auch sie wird sich demnächst endgültig in ein Mädchen zurückverwandeln müssen. Der Moment kommt schneller als erwartet – beim Spielen treffen sie in den Bergen auf einen Taliban, der zu wissen scheint, dass sie eigentlich ein Mädchen ist. Der Taliban bedroht die Familie und verlangt, dass sie ihrer Rolle als Frau gemäß in der Öffentlichkeit unsichtbar wird. Auch Tarek gerät ungewollt ins Visier der Taliban. Sie haben herausgefunden, dass er ein außergewöhnlich guter Spurenleser ist und wollen ihn in ihre Dienste nehmen. Beide müssen fliehen, und die Familien schicken sie auf die gefährliche Reise nach Europa.
Erweiterung des Blickfelds
Dirk Reinhardt hat mit vielen jungen Flüchtlingen gesprochen, er zeichnet ein lebendiges Bild vom Leben in den Bergdörfern Afghanistans, bei den Nomaden und in den Städten. Die gefährliche Flucht von Tarek und Soraya nach Europa wird abwechselnd geschildert, sachlich und unsentimental. Die beiden wissen nichts voneinander und treffen sich nur zufällig bei der dramatischen Überquerung der türkischen Grenze in den Bergen wieder. Schnell verlieren sie sich danach aus den Augen und müssen lange auf das nächste Wiedersehen warten.
Ein Buch, das den Blick für die Probleme der Welt schärft und das Erwachsenwerden aus einer anderen und sehr ungewöhnlichen Perspektive schildert. Soraya muss ihre Identität zwischen Junge und Mädchen erst finden und nach ihrer Ankunft in Deutschland mutterseelenallein zurechtkommen. Das ist nicht leicht für sie. Tarek ist das Leben als Nomade gewöhnt, er ist nie zur Schule gegangen, und es fällt ihm schwer, sich an das geregelte Leben in Deutschland zu gewöhnen.
Ankommen im fremden Land
Ein Jugendroman, der viele Perspektiven eröffnet: Angst, Heimweh und Verzweiflung, aber auch Identitätssuche, Freundschaft und Hoffnung. Die Figuren werden als lebendige, vielschichtige Charaktere sichtbar, es sind Menschen, nicht nur Geflüchtete. Gleichzeitig werden Fluchtursachen, die Flucht selbst und die totale Abhängigkeit von Schleppern erzählt und wie schwer es ist, im fremden Land "anzukommen".
Ein Buch nicht nur für die private Lektüre, der Verlag stellt auch Unterrichtsmaterial zur Verfügung.
(Iris Knappe)
Dirk Reinhardt, *1963 in Bergneustadt/Bergisches Land, Studium der Geschichte und Germanistik in Münster, freier Journalist, sein Roman "Train Kids" war für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2016 nominiert.
Dirk Reinhardt "Über die Berge und über das Meer"
Gerstenberg Verlag 2019, 318 Seiten, 14,95 Euro
Ab 13 Jahren