Ingrid Olsson
Neuschnee
Erzählungen
"Önska bort, önska nytt" - Ich wünsche weg, ich wünsche neu. Die Bedeutung des schwedischen Originaltitels führt zwar viel direkter zum Inhalt der Geschichten, aber auch der deutsche Titel "Neuschnee" - deutlich abstrakter - trifft die Grundidee einiger Erzählungen recht genau.
Wünschen
Verlust, Verlorensein, Wünsche, die ins Leere führen - darum geht es in den acht kurzen Texten, die nicht nur im Winter spielen, sondern auch die Kälte und die Dunkelheit der Jahreszeit ausstrahlen. Es sind Momentaufnahmen, ohne Vorgeschichte, unmittelbar und eindringlich erzählt.
Zwischen Himbeersommer und Winterfinsternis
Zwei Mädchen im Café: Vanilleeis und Himbeersauce sollen einen "roten Himbeersommer" herbeizaubern - Wunschträume von Vertrauen und Nähe. Doch die beiden leben in ganz unterschiedlichen Welten, die eine spürt die Einsamkeit schon beim Verlassen des Cafés. Sie traut sich nicht, der Freundin von ihren Ängsten zu erzählen. Es ist Winter, es ist dunkel: Nur eine wird vom Vater an der Bushaltestelle abgeholt. Hier Wärme und Geborgenheit - dort Leere. Das Mädchen tut nur so als würde sie auch mit den Eltern telefonieren und will ihre Verlorenheit nicht zugeben. Die Freundinnen verabschieden sich:
",Melde dich, wenn du gut zu Hause angekommen bist.' Ihre Umarmung duftet nach Sommer. Himbeerrotem Sommer. ... Der Bus macht ein zischendes Geräusch und fährt weiter in die Dunkelheit hinein. In die Schwärze dort draußen, die trotzdem noch heller ist als ihr Zuhause."
Allein auf der Welt
Ein Junge steht auf einem Bahnsteig, eine Tüte in der Hand: "Da drin ist sie, dachte er. Sie, die mich hätte abholen können." Der Junge kommt aus dem Krankenhaus, seine Mutter ist dort gerade gestorben - er ist allein auf der Welt. Nur das Halstuch, das in der Tüte steckt, ist nicht zerrissen. "Das hatte überlebt."
Wünsche, die ins Leere führen
In der titelgebenden Kurzgeschichte sitzt ein Junge vor einem Blatt Papier und schreibt Wünsche auf: "Einen Körper ohne Gefühl Einen Körper ohne Gehör Einen Körper ohne Herz."
Dann wünscht er sich "Ein Herz aus Schnee, das weißes Blut pumpt, das nie rot werden kann oder schwer". Aber ein Herz aus Schnee ist kalt, fühlt nichts. Der Junge ist einsam, muss etwas mit sich ausmachen - was das ist, erfährt der Leser nicht, das kann er nur erahnen, entschlüsseln. Am Schluss wünscht der Junge sich eine Sternschnuppe – ein Zeichen von Hoffnung?
Verdichtetes Erzählen
Ingrid Olsson reduziert auf das Wesentliche, erzählt von großer Einsamkeit und Ausweglosigkeit, denn die Jugendlichen stehen völlig allein da. Die Seiten sind fast leer, es sind nie mehr als 12 Zeilen, das erinnert eher an Gedichte und symbolisiert die Isoliertheit der Figuren sehr deutlich. Was bleibt, ist oft nur ein vages Gefühl, eine Stimmung. Ein kühl distanzierter Erzähler lässt den Leser mit den jeweiligen Figuren buchstäblich allein in der Kälte stehen. Trotz aller Distanz leidet er mit, aber die Figuren lassen Nähe einfach nicht zu. Jeder einzelne Text fordert zur Interpretation heraus und lässt einen auch nach der Lektüre nicht los.
Vielleicht greifen Jugendliche nicht allein zu diesen zum Teil sehr reduzierten Kurzgeschichten, die jedoch ihre Lebenswelt beschreiben: Freundschaft und Verlassenheit, Veränderungen, die nicht immer beeinflussbar sind, Sprachlosigkeit, Probleme mit den Eltern - Themen, die Anlass zum gemeinsamen Nachdenken geben können und viel Raum bieten, um mit den Figuren in einen Dialog zu treten.
(Iris Knappe)
Ingrid Olsson wurde 1977 in Stockholm geboren. Sie war unter anderem für den August-Preis, den renommiertesten Literaturpreis Schwedens, nominiert. Nachdem sie ihr Studium in kreativem Schreiben abgeschlossen hatte, debütierte sie 2003 mit dem Jugendroman "Medan Mamma sover". Auf Deutsch ist für Jugendliche noch "Als würde man mit den Fingern schnipsen und schon ist es vorbei" (2013) erschienen.
Ingrid Olsson "Neuschnee"
aus dem Schwedischen von Cordula Setsman
Verlag Mixtvision 2016, 112 Seiten, 12,90 €
ab 14 Jahren
Der Verlag bietet kostenloses Unterrichtsmaterial zum Download an unter: mixtvision.de/lehrer/.