Stefanie Höfler
Der große schwarze Vogel
Es gibt ein Davor und ein Danach – Bens Mutter ist tot. Plötzlich und unerwartet, gestorben im Schlafzimmer, der Vater schiebt den Jungen aus dem Raum und er hört den Sanitäter noch sagen: “Das wird nichts mehr.“
Überall Schweigen
Es ist ein strahlender Oktobertag als die Mutter stirbt und Ben denkt noch darüber nach, dass es in solchen Geschichten immer neblig und regnerisch ist. Alles ist so unwirklich für ihn, dass er mehrfach Menschen schockiert, indem er sie aus dem “Small-Talk-Modus“ reißt und vom Tod der Mutter spricht. Alle vermeiden es, ihn auf den Tod anzusprechen. In der Schule fühlt er die mitleidigen Blicke, aber keiner traut sich etwas zu sagen. Nur Lina, die Außenseiterin in der Klasse, wagt einen Vorstoß im Deutschunterricht. Vielleicht ist es nur eine Provokation, wenn sie in sehr sachlichem Ton fragt, ob sie nicht über den Tod von Bens Mutter sprechen sollten - Ben ist ein wenig in sie verliebt und kann zunächst gar nicht reagieren.
“Ich wollte, dass sie mich alle fragten. Nein, ich wollte in Ruhe gelassen werden. Am liebsten wollte ich, dass alles wieder war wie immer, wenigstens hier. Zu Hause saß mein Vater auf dem Fußboden und heulte, während Billie Holiday sich die Seele aus dem Leib sang.“
Auch seinen Freund Janus, der versucht, ganz normal mit ihm umzugehen, stößt er zwischendurch zurück.
Erinnerungen und Abschied
Bens kleiner Bruder Karl, der von allen nur Krümel genannt wird, sucht und findet ganz eigene Rituale, um von der Mutter Abschied zu nehmen. Das Davor wird in kursiv gesetzten Kapiteln erzählt und die Mutter erscheint als eine ungeheuer lebendige, lebensfrohe Person mit grünen Augen und roten Haaren, die ihre Liebe zur Natur mit Ben und dem kleinen Bruder teilt. Die enge Verbindung reißt auch nach ihrem Tod nicht ab – der kleine Bruder begegnet ihr:
“Ma lehnte an einer Birke. Ihr weißes Kleid hob sich kaum von der Rinde ab, ihre Haare umso mehr. Sie war barfuß und lächelte schräg, wie eine Baumnymphe, …“
Nach und nach kann Ben sich auf Krümels Strategien von Trauer und Verarbeitung einlassen: Der kleine Bruder baut eine Art Mausoleum für die Mutter, gibt ihr eine Feder mit und bemalt den Sarg in leuchtenden Farben.
Ein Buch über das Leben
Die große Stärke dieses Romans: Die Autorin nimmt die jugendlichen Leser ernst. Es gelingt ihr, das Thema Sterben und Verlassensein ganz selbstverständlich zu beschreiben. Sie macht die Verzweiflung über den frühen Tod spürbar, aber auch das Glücksgefühl, genau diese Mutter gehabt zu haben. Die anfängliche Überschrift der kursiv geschriebenen Kapitel “Davor“ wird irgendwann zum “Jetzt“ und schließlich heißen diese Kapitel “Danach“. So begleitet der Leser die Jungs und ihren Vater auf dem langen Weg des Trauerns schließlich zurück ins Leben. Das ist nicht einfach, immer wieder weisen sie Menschen brüsk zurück, die helfen wollen. Aber die Autorin zeigt Menschen, die nicht "einen Zentimeter … vorbeischauen“, sondern Verzweiflung, Wut und Einsamkeit gemeinsam mit den Jungen aushalten. Damit wird aus dem Buch über das Sterben ein Buch über das Leben derer, die zurückbleiben.
(Iris Knappe)
Stefanie Höfler, *1978, Lehrerin, Theaterpädagogin und Schriftstellerin, lebt im Schwarzwald
Stefanie Höfler “Der große schwarze Vogel“
Beltz & Gelberg 2018, 182 Seiten, 13,95 Euro
eBook 12,99 Euro
Ab 12 Jahre
Weiterer Buchtipp zu Stefanie Höfler
"Tanz der Tiefseequalle"