JÜRGEN DOLLASE
Geschmacksschule
Wie nähern Sie sich einem guten Essen, das appetitlich vor Ihnen auf dem Teller angerichtet ist? Erfreuen Sie sich zunächst am schönen Anblick des kulinarischen Kunstwerks, ehe Sie zugreifen? Gehen Sie bedächtig vor und kosten hier und da erst mal oder legen Sie gleich los und häufen sich die Gabel voll?
Genuss kann man lernen
Geschmack hat viel zu tun mit dem Umgang mit Lebensmitteln. Den haben wir in der Regel früh gelernt, d.h. das Essverhalten in der Familie ist prägend. Fast-Food-Futterer werden nicht geboren, sondern erzogen oder besser: sie gucken sich's ab.
Nun ist Jürgen Dollase kein Pädagoge, der frühkindliches und familiäres Essverhalten analysieren will. Ihm geht’s um mehr Bewusstsein für's Essen, und er nähert sich den damit verbundenen Sinneseindrücken akribisch und mit wissenschaftlicher Genauigkeit.
Was passt zueinander
Der Gourmet-Kritiker will uns lehren, die Dinge, die wir verspeisen, auch zu schmecken, und unsere Geschmacksnerven zu sensibilisieren, um Aromen und Texturen unterscheiden und ihr Zusammenspiel genießen zu können.
Geschmack entfaltet sich zwar auf der Zunge, aber ohne die Speisen zu riechen, würden wir nur wenig schmecken. In der Regel können wir süß und salzig, sauer und bitter, heiß und kalt gut unterscheiden. Aber spüren wir noch, wie Schmelzendes und Festes, Laues und Kühles, Krosses und Schaumiges zueinander passen?
Spektrale Hintergründe
Dollase rät zur Probe aufs Exempel und empfiehlt Löffelgerichte, kleine (Test)Mahlzeiten, serviert auf einem Löffel, deren Zusammenstellung sich langsam zum perfekten Miniaturmenü steigert. Dabei lernen wir Aromen, Texturen und Akkorde zu unterscheiden, Breitwandgeschmack, minimal krosse Blitze und Orangen-Air, breite Einstiege und spektrale Hintergründe.
Das klingt alles ein wenig verrückt und erinnert stark an die kulinarische Begrifflichkeit von Weinproben. Aber bei genauerem Hinsehen, Schnuppern und Nachschmecken erweist sich das Löffelgericht als sehr wirkungsvolle Methode, den eigenen Geschmack zu trainieren. Das beginnt beim simplen Burger:
"Wenn man normal hineinbeißt, reicht der Biss etwa bis zur Mitte, und man bekommt immer das, was man bekommen soll, also eine fast immer gleiche Mischung der Elemente. Dieses Zusammenspiel der Elemente nennt man mittlerweile auch beim Essen "Akkord''.
Probe auf's Exempel
Dollase wertet sensorische Erlebnisse in einer Geschmackskurve aus und teilt uns in genauen Degustationsnotizen mit, was wir schmecken sollten und wie sich der Geschmack des Menüs entfaltet, zum Beispiel beim Fischfilet mit Blätterteigbruch, Apfel, Mandeln und Vanillecreme:
" ... der Blätterteig sorgt für einen schönen Einstieg ... Die Texturen von Apfel und Mandelsplitter bleiben zurückhaltend und begleiten den Fisch längere Zeit ..." Oder warmer Bohnensalat mit Ingwersahne und Gemüsegelee: "Da die Bohnen das einzige feste Element sind und man einige Zeit zu ihrer Zerkleinerung braucht, ergibt sich eine durchlaufende Aromatisierung durch die beiden schmelzenden Elemente Ingwersahne und Gemüsegelee..."
Lukullische Genüsse
Das grafisch elegant gestaltete, höchst informative Buch bietet viele Anregungen für kulinarische Kunstgriffe, verspricht lukullische Genüsse und setzt gleichsam als Sahnehäubchen die Löffelmenüs von zwölf Meisterköchen oben drauf.
Was schnell klar wird: Der einflussreiche Restaurantkritiker und Kolumnist der FAZ will dem herkömmlichen Alltagsesser sagen, dass man trainieren kann, fein zu schmecken, bewusst und gut zu essen, um schlechte und mittelmäßige von guter Küche zu unterscheiden und sich nicht mit fader Kost abspeisen zu lassen. Kurzum: Lust am Genuss kann jeder lernen.
(Christiane Schwalbe)
Jürgen Dollase *1948 in Oberhausen, Musiker (Gruppe "Wallenstein"), Restaurantkritiker, Gastronomie-Journalist insb. für die FAZ, lebt in Mönchengladbach
Jürgen Dollase "Geschmacksschule"
Überarbeitete und aktualisierte Neuauflage in der Süddeutsche Zeitung "SZ Gourmet Edition"
Tre Torri Verlag 2o17, 192 Seiten, 39,90 Euro
Weiterer Buchtipp zu Jürgen Dollase
Himmel und Erde
In der Küche eines Restaurantkritikers