Chris Harding Thornton
Pickard County
„Nebraska ist ja auch lebensgefährlich. Tornados können dich im Frühjahr umbringen oder Blizzards im Winter. Und es ist ein Ort, der dir mit seiner Weite immer wieder zeigt, wie klein und unbedeutend du bist.“ *
Verfallene Gehöfte
Im heißen Sommer von 1978 haben viele der Menschen, die ein Jahrhundert zuvor auf der Suche nach billigem Land kamen, ihre Farmhäuser schon wieder aufgegeben. Andere nahmen sie in Besitz und gingen wieder, und die verlassenen Gehöfte verfallen und werden zum Abenteuerspielplatz Jugendlicher. Nur ihre Namen zeugen noch von den ursprünglichen oft deutschen Immigranten - Reinhardt, Logemann oder Jipp. Ziske, ein alter Mann erinnert sich:
„Die meisten dieser Häuser wurden von Leuten gebaut, die nicht mal einen Pinkelpott besaßen. Wenn sie einen gehabt hätten, wären sie nicht hier gelandet. Alte Häuser sind alles, was von ihnen übrig ist.“
Die Tragödie der Familie Reddick liegt schon 18 Jahre zurück: der älteste Sohn wurde als Kind ermordet, seine Leiche wurde niemals gefunden. Seine Brüder reparieren im Auftrag des Vaters Mobilehomes. Paul ist der ‚bad guy‘, wild, klug und unangepasst, während Rick sehr jung geheiratet und eine Tochter hat, und zerrissen ist zwischen der Sorgen um den Bruder und der Versorgung seiner kleinen Familie im abgewrackten Trailer.
Ruhe bewahren
Ihre Mutter gilt als verrückt, denn sie vagabundiert herum, immer auf der Suche nach dem verlorenen Sohn. Eine Szenerie, die wir uns als Film vorstellen können, zumal die Figuren gut entwickelt werden, die Dialoge knapp und treffend sind und die Gefahr, dass etwas Schlimmes geschieht, ständig in der Luft zu liegen scheint. Todunglücklich sind sie alle und hängen in ihren armseligen Leben fest, wie in unsichtbaren Spinnennetzen.
„Man kann es nicht wissen, und man kann nicht sein ganzes Leben damit verbringen, sich zu fragen, ob alles anders gekommen wäre, wenn man eine Sache mehr oder weniger getan hätte, eine winzige Sache. Wahr oder nicht wahr. So kann man nicht durchs Leben gehen.“
Sheriff Glenn und sein Stellvertreter Harley sind sich uneins, warum man den toten Jungen nie fand, und Harleys Fixierung auf Paul Reddick, den er für gefährlich hält, führt immer wieder in die Irre, während Feuer gelegt und alte Geschichten nicht vergessen werden. Harley wurde Sheriff wegen des regelmäßigen Gehalts und seiner lebenslangen Übung,
„im Beisein von anderen die Ruhe zu bewahren. Es hatte sich nie wie Schwäche angefühlt, da es ziemlich viel Mühe gekostet hatte, es zu kultivieren.“
Doch jetzt ist er sich dessen nicht mehr sicher, und als Harley und Ricks Frau Pam sich nachts in einem der verlassenen Häuser, seinem Elternhaus, treffen, erst aus Zufall und dann aus gegenseitiger Anziehung, steigt die Spannung, und der Wahnsinn greift um sich.
Schweigsame Männer
Die Autorin, selbst in dieser Gegend in der siebten Generation geboren und aufgewachsen, kennt sie gut, die schweigsamen, zähen und bitteren Männer und Frauen, die ihrem Schicksal kaum entkommen können, weil sie an dem hängen, was sie haben. In der jungen Pam hat sie eine Figur erschaffen, die die Handlung schon deshalb vorantreibt, weil sie ausbrechen will, denn sie hat erkannt, dass sie „das Flehen in ihm“, ihrem Mann Rick, nicht weglieben kann und auch ihre kleine Tochter lieber bei der eigenen Mutter lassen will als sie großzuziehen.
Chris Harding Thornton gewährt ihren AkteurInnen eine je eigene Perspektive und blickt mit Empathie und Abstand auch auf ihre Verstrickungen, und vor allem die elende Lage der Frauen. Dadurch unterläuft sie alle Krimi-Erwartungen und Klischees mit großem inszenatorischem Geschick, auch durch das, was sie elegant ausspart.
(Lore Kleinert)
* C.H.Thornton, zitiert im Nachwort von Markus Müntefering
Chris Harding Thornton, Nebraska/mittlerer Westen, Amerikanische Autorin, unterrichtet Schreiben und Literatur
Chris Harding Thornton "Pickard County"
aus dem Amerikanischen von Kathrin Bielfeldt
Kriminalroman, Polar Verlag 2022, 312 Seiten, 16 Euro